Der Schwur des Maori-Mädchens
vergewissert hatte, dass sie allein in Mangawhai Head war, zog sie ihr einfaches Kleid aus und rannte, so schnell sie konnte, ins kühlende Nass, weil sie befürchtete, der heiße Sand werde sonst ihre Füße verbrennen.
Mutig stürzte sie sich in die Fluten. Obwohl es ein warmer Sommertag war, brachen sich die hohen Wellen mit ziemlicher Kraft auf dem Strand, doch das schreckte sie nicht. Sie liebte das Meer und kannte keine Angst. Im Gegenteil, sie verstand es, geschickt unter den Wellen durchzutauchen. »Du musst Maori-Blut in dir haben«, hatte Tamati behauptet, als er sie das erste Mal hatte schwimmen sehen. »Wir saugen das mit der Muttermilch auf. Im Gegensatz zu den Pakeha.«
Lily hatte die Wellenkämme nun hinter sich gelassen und schwamm in ruhigen Bahnen entlang des puderig weißen Strandes. Sie hatte es längst aufgegeben, darüber nachzugrübeln, ob ihre Mutter wohl eine Maori gewesen war oder nicht. Das spielte in ihrem jetzigen Leben keine Rolle mehr. Sie war durch Tamati schnell vertraut geworden mit den Ritualen seines Volkes, und sie fühlte sich sehr wohl unter ihnen. Manchmal wurden sie in eines der Dörfer zu einem Hangi eingeladen, ein Erlebnis, das Lily immer wieder genoss. Fleisch und Gemüse aus dem Erdofen hatten einen ganz anderen, ungleich intensiveren Geschmack als in einer Küche zubereitet.
Heute bewies sie beim Schwimmen besonders viel Ausdauer. Sie hatte sich vorgenommen, bis an den Rand der Erschöpfung im Meer zu bleiben, aber mit immerhin so viel restlicher Kraft, dass sie es problemlos zurück an den rettenden Strand schaffte. Für sie war das ein Ritual, sich von ihrer Vergangenheit zu befreien. Sie war es so leid, sich in den Schlaf zu weinen oder schweißgebadet aus ihren Albträumen zu erwachen, in denen sie immer wieder ihren Sohn verlor. Sie musste Peter endlich loslassen. Er würde danach selbstverständlich seinen Platz in ihrem Herzen behalten, aber sie konnte nicht einfach in Dunedin auftauchen und ihn in eine Welt verschleppen, die ihm wahrscheinlich immer fremd bleiben würde. Und sie war nicht in der Lage, reumütig nach Dunedin zurückzukehren und als Gefangene im Haus Newman ihr Leben zu fristen. Sosehr sie sich auch bemühte, Trauer über Edwards Tod konnte sie nicht empfinden. Lily drehte sich auf den Rücken und ließ den Blick gen Himmel schweifen. Er war von einem strahlenden Blau. Riesige Möwen zogen ihre Kreise. Lily seufzte, während sie sich zurück auf den Bauch drehte. Sie musste feststellen, dass sie sich heute sehr weit vom Strand entfernt hatte, doch noch besaß sie genügend Reserven.
Ihre Beine fühlten sich ein wenig wackelig an, als sie sich schließlich durch die Wellenkämme zurück ans Land gekämpft hatte. Trotzdem war jetzt keine Zeit zum Verschnaufen. Sie verspürte große Sehnsucht nach Tamati. Also zog sie sich schnell an und eilte zu dem rot blühenden Pohutukawa, unter dem sie ihr Pferd angebunden hatte. Im Galopp preschte sie nach Hause.
Tamati und sie hatten sich ein Haus direkt am Hafen gebaut. Lily hatte es eigentlich von dem Geld bezahlen wollen, das sie bei den Sachen ihrer Mutter gefunden hatte, doch das ging gegen Tamatis Stolz. Er wollte es unbedingt mit eigener Hände Arbeit errichten. Es war groß und aus Holz. Nur die Veranda war noch nicht fertig, denn vom ersten Tag an waren Patienten gekommen.
Lily stutzte, als sie vor dem Haus einen älteren Maori erblickte. Sie hielt ihn für einen Patienten und bat ihn, ihr zu folgen. Sie rief nach Tamati, aber er war nicht zu Hause.
»Kann ich Ihnen helfen? Mein Mann ist noch unterwegs.«
Der Mann, dessen Alter sie nicht genau einschätzen konnte und der im Gesicht ein Tattoo besaß, das sie nicht kannte, zögerte, doch dann sagte er: »Ich wollte zu Ihnen. Sind Sie Lily?«
Sie nickte. »Kennen wir uns?«
»Sie waren ein junges Mädchen, als ich Sie zum letzten Mal gesehen habe.«
Lily musterte ihn prüfend. Ganz dunkel kam eine Erinnerung in ihr hoch.
»Waren Sie nicht einmal bei uns in Wanganui, kurz bevor wir nach Dunedin gezogen sind?«
»Sie erinnern sich?«
»Dunkel. Ich weiß nur, dass die gute Ripeka sehr aufgeregt war, nachdem wir Sie getroffen hatten.«
»Wohnt sie auch bei Ihnen?«
Traurig schüttelte Lily den Kopf. »Sie ist schon ein paar Jahre tot. Leider. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an sie denken muss.«
»Das tut mir leid. Sie war ein guter Mensch, wenngleich sie mich am liebsten zum Teufel
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