Der Schwur des Maori-Mädchens
anderes war seine Aufgabe! Schließlich war sie seine Nichte und die Einzige seines Stammes, die ihm noch geblieben war.
»Warum lebt dein Sohn nicht bei dir?«, fragte er mit weicher Stimme. Er konnte sie nicht länger wie eine Fremde ansprechen.
Der mitfühlende Ton seiner Worte trieb Lily auf der Stelle Tränen in die Augen.
»Mein Mann Edward hat mich aus dem Haus geworfen, nachdem ich Doktor Ngata zum Abschied einen Kuss gegeben hatte. Mein Sohn wurde Zeuge dieser Zärtlichkeit und hat es in einem Anfall von kindlichem Zorn seinem Vater verraten.«
»Aber das berechtigt ihn doch nicht, dir dein Kind zu nehmen. Das kannst du nicht zulassen. Er muss dir deinen Sohn zurückgeben.« Matuis Stimme vibrierte vor Empörung.
»Edward ... also der Mann, mit dem ich offiziell noch verheiratet war, ist erst kürzlich gestorben. Ich bekam eine Anzeige von meiner Schwiegermutter. Ohne ein persönliches Wort, und dennoch habe ich verstanden, was sie mir damit hatte sagen wollen: Das Kind gehört jetzt zu dir, nicht zu uns.«
»Recht hat sie, aber dann sollte der Junge längst bei dir sein.«
»Das habe ich auch gedacht und ihm einen Brief geschrieben, dass ich ihn abholen werde, doch er...« Lily brach in lautes Schluchzen aus, holte den zerknitterten Brief aus ihrer Jackentasche und reichte ihn Matui.
»Lies, und du wirst verstehen, warum es nicht geht.«
Matui griff wortlos nach dem Schreiben und vertiefte sich in den Inhalt. Bei jedem Wort, das er nun las, versteinerte seine Miene mehr und mehr.
Nachdem er fertig war, blickte er Lily durchdringend an. »Aber er muss erfahren, dass auch durch seine Adern Maori-Blut fließt.«
»Nein, Matui, mir bleibt nur eines: die Hoffnung, dass er sich meiner besinnt, wenn er erwachsen ist.«
Herannahende Schritte ließen Lily und Matui verstummen.
»Mein Mann«, sagte Lily, und ihre Augen glänzten.
Tamati begrüßte Lily zärtlich und wandte sich danach Matui zu. »Warten Sie auf mich?«
»Nein, Tamati, das ist Matui, mein Onkel. Ripeka hat damals die Wahrheit gesprochen. June war nicht meine leibliche Mutter, sondern seine Schwester Makere.«
»Habe ich doch immer gesagt, in dir steckt mindestens so viel Maori wie Pakeha«, lachte Tamati, doch die betretenen Gesichter der beiden ließen ihn gleich wieder ernst werden.
»Ich habe Matui Peters Brief gezeigt.«
»Ach, dieser verdammte Brief. Vernichte ihn doch endlich!« Er war auf Lily zugetreten und hatte ihr den Arm um die Schultern gelegt.
»Matui versteht nicht, warum ich den Jungen nicht gegen seinen Willen zu uns hole.«
Tamati verdrehte die Augen. »Wollt ihr wirklich ein Pakeha-Kind wie ihn gegen seinen Willen in diese fremde Welt verpflanzen? Er ist mit dem Hass gegen uns aufgewachsen, den sein Großvater weiterschürt.«
»Du darfst die Hoffnung trotzdem niemals aufgeben. Er gehört zu uns«, sagte Matui in scharfem Ton.
»Nein, Matui, du irrst, er gehört zu ihnen«, widersprach ihm Tamati.
»Matui hat recht. Ich werde nicht kampflos aufgeben, sondern ihm weiterhin Briefe schreiben«, seufzte Lily.
Tamati fuhr sich nervös mit der Hand durch das dichte schwarze Haar. »Ich will doch auch nur dein Bestes«, stöhnte er. »Aber ich ertrage es nicht, wie du leidest. Du wirst wieder Jahr für Jahr vergeblich auf eine Antwort warten. Lasst ihn in Frieden.«
Lily blickte verunsichert von Tamati zu Matui. »Vielleicht sollte ich euch jetzt erst einmal ein Essen zaubern, und wir lernen uns ein wenig besser kennen. Du bleibst doch, oder?« Sie wandte sich an Matui.
»Natürlich bleibe ich zum Essen. Meine Unterkunft bei den Bootsbauern ist ja nicht weit weg von hier.«
»Was machst du denn dort?«, fragte Tamati neugierig.
»Ich fertige Schnitzereien für die Wakas an, die in Mangawhai hergestellt werden.«
»Das ist ja spannend. Vielleicht könntest du uns ein Geländer für die Terrasse schnitzen, damit das endlich fertig wird.«
»Das mache ich doch gern«, erwiderte Matui begeistert.
»Aber dann wohnst du bei uns.«
Tamati klopfte Matui freundschaftlich auf die Schulter.
Die beiden verstehen sich auf Anhiebh, auch wenn sie unterschiedlicher Meinung sind, was Peter angeht, dachte Lily, während sie in die Küche ging. Und sie fand, dass ihr frischgebackener Onkel außerordentlich weise war. Natürlich durfte sie die Hoffnung nicht aufgeben und musste sich weiter um ihren Sohn bemühen, selbst auf die
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