Der Schwur des Maori-Mädchens
Vivian sprang von ihrem Stuhl hoch und fiel Matui stürmisch um den Hals.
»Ich habe dich lieb«, flüsterte sie. Der Maori aber schien völlig entrückt zu sein.
»Als ich zurück nach Wanganui kam, war nur noch June dort. Sie kämpfte wie eine Löwin. Wollte mir nicht verraten, wo Lily abgeblieben war. Sie hat mich sogar auf eine falsche Fährte gelockt. Beinahe wäre ich nach Wellington gereist. Dann war auch June über Nacht verschwunden, und ich ging in den Norden zurück. Dort hatte ich eine Frau, die aber starb, ohne mir Kinder zu schenken. Mein Ruf als Meister der Schnitzerei eilte mir voraus. Und als ich eines Tages viele Jahre später nach Mangawhai gerufen wurde, um die Schnitzereien an den Kanus auszuführen, wurde ich von den Ahnen dorthin geführt, denn dort hörte ich von einer Pakeha, die den Maori half. Ihr Name war Lily, und ich wusste sofort, dass ich sie gefunden hatte.«
Vivian setzte sich leise zurück auf ihren Stuhl, schloss die Augen und war bereit, Matuis Geschichte zu lauschen.
Mangawhai, Januar 1880
Lily saß im warmen Sand und blickte über das Meer. Sie liebte diesen Platz und ritt, sooft es ihre Zeit erlaubte, zu diesem malerischen Strand auf der Landzunge. Das kam selten genug vor, weil es eigentlich immer etwas zu tun gab. Entweder bekam eine der Maori-Frauen ein Kind oder einer der Schiffsbauer aus dem Hafen hatte sich bei der Arbeit verletzt. Aber auch die Farmer aus den umliegenden Orten suchten die Praxis auf. Hier oben im Norden konnte sie endlich für ihre Berufung und ihre große Liebe leben, ohne mit Häme und Skepsis bedacht zu werden. Das war in Auckland anders gewesen. Da hatte es den weißen Arzt für die Pakeha gegeben und Tamati für die Maori. Und ständig hatte man über ihre Beziehung getratscht. Als die Gerüchte, dass sie nicht einmal ordnungsgemäß verheiratet waren, überhandgenommen hatten, waren sie in den Norden gezogen. Hier hatten sie in einer Maori-Zeremonie geheiratet, obwohl Lily auf dem Papier noch Edwards Ehefrau war, weil weder sie noch er je die Scheidung eingereicht hatten.
Das erinnerte Lily schmerzhaft an den Brief, der neben ihr im Sand lag und den sie seit seinem Eintreffen bereits Dutzende Male gelesen hatte. Allein bei dem Gedanken an diese Zeilen schossen ihr Tränen in die Augen, und sie entsann sich ihrer unbändigen Freude, als endlich ein Antwortbrief gekommen war. Jahrelang hatte sie ihrem Sohn Briefe geschickt, doch niemals eine Reaktion erhalten. Bis gestern. Ihr Herz hatte bis zum Hals geklopft, als sie ihn geöffnet und die gestochen scharfe Schrift ihres Sohnes gesehen hatte. Doch die Freude war von kurzer Dauer gewesen. Der vierzehnjährige Junge hatte ihr in knappen, sachlichen Sätzen mitgeteilt, dass sein Vater gestorben sei, er aber keinen Wert darauf lege, bei ihr zu leben. Sein Zuhause sei in Dunedin bei den Großeltern. Und er hatte ihr ausdrücklich untersagt, weiter Kontakt zu ihm zu suchen. Du bist für mich vor vielen Jahren gestorben, als Du Vater und mich verlassen hast, um zu diesem Maori zu gehen. Ich verachte die Maori und möchte keine Maori-Hure zur Mutter. Dieser Satz tat ihr besonders weh, und sie war versucht gewesen, ihm zu schreiben, wie es wirklich gewesen war, doch Tamati hatte ihr dringend davon abgeraten. Wie hatte er noch gesagt? Das Kind ist ohnehin zerrissen. Willst du ihn wirklich gegen seine Großeltern aufwiegeln?Er lebt in ihrer Welt. Er will ein Pakeha sein. Er wird von sich weisen, was du ihm schreibst, aber der Zweifel wird wie ein schleichendes Gift an ihm nagen. Er ist ein unglückliches Kind, doch wenn du an ihm zerrst, wirst du seinen Hass nur noch weiter schüren.
Bei dem Gedanken an Tamati, den sie ihren Mann nannte, wurde Lily warm ums Herz. Sie liebte ihn mit jeder Faser ihres Herzens und hatte nie bereut, damals zu ihm gegangen zu sein. Wenn sie an ihr Wiedersehen dachte, wurden ihre Knie noch heute weich. Sie waren sich stumm in die Arme gefallen und hatten sich wenig später, ohne viele Worte gewechselt zu haben, ihrer Leidenschaft hingegeben. Niemals hätte Lily zu hoffen gewagt, dass eine Hand auf ihrem Körper ein solches Feuer in ihr würde entfachen können. Noch heute, nach neun Jahren, die sie unter einem Dach lebten, begehrte sie ihn wie am ersten Tag.
Ich muss nach Hause, ging es ihr durch den Kopf. Er wird auf mich warten. Doch vorher wollte sie das Meer auf ihrer Haut spüren. Sie sah sich prüfend nach allen Seiten um. Nachdem sie sich
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