Der Schwur des Maori-Mädchens
Gefahr hin, dass es für sie großes Leid bedeutete. Zwar verstand sie Tamati und sein Bedürfnis, sie zu schützen, aber sie war nicht in der Lage, ihren Sohn einfach so aufzugeben. Matui hatte ihr eben den Weg gewiesen. Sie konnte und durfte Peters Anordnungen, ihn nicht mehr zu kontaktieren, nicht Folge leisten. Sie musste so lange um ihren Sohn kämpfen, bis er ihr freiwillig die Gelegenheit gab, persönlich mit ihm zu sprechen. Beim Zubereiten der Süßkartoffeln überlegte sie, was sie ihm dann wohl alles sagen würde. Dass sie nie aufgehört hatte, ihn zu lieben, dass sie ihm nie böse gewesen war, weil er die Sache mit dem Kuss verraten hatte, und dass sie keine Hure war. Aber ihre tiefe Liebe zu Tamati, die würde sie niemals verleugnen. Sie erschrak. Was würde sie ihm antworten, wenn er fragte, ob sie seinen Vater geliebt hatte? Durfte sie ihn je mit der Wahrheit konfrontieren, dass auch in ihm das verhasste Maori-Blut floss? Lily wusste es nicht, aber sie ahnte, dass es noch lange dauern konnte, wenn es überhaupt jemals zu dieser Begegnung käme.
Whangarei, März 1920
Vivian rutschte nervös auf ihrem Stuhl hin und her. Dabei hatte Matui doch gerade erst angefangen zu erzählen und war munter genug, um fortzufahren, doch er hatte innegehalten und musterte sie durchdringend.
»Kann es sein, dass du mit den Gedanken woanders bist?«, fragte er streng.
»Nein, ich höre dir zu. Ich ...«
»Nun geh schon!«
Vivian sah ihn verblüfft an. »Aber woher weißt du immer, was in meinem Kopf vor sich geht?«
Matui lachte. »Dazu muss man kein weiser Mann sein, sondern nur Augen im Kopf haben, denn du bist wie ein offenes Buch. Du überlegst doch die ganze Zeit, wie du mir, ohne mich zu beleidigen, beibringen kannst, dass ich meine Erzählung ein wenig unterbrechen möge.«
»Du bist großartig«, seufzte Vivian, bevor sie aufsprang, ihm noch einen Kuss auf die faltige Wange gab und ins Haus eilte.
»Das ist der falsche Weg«, lachte er, doch da war Vivian schon verschwunden. Hastig zog sie sich um. Sie wollte Fred in dem Kleid überraschen, das im Haus des Bischofs so viel Missfallen erregt hatte. Ob ich ihn wohl vor seiner Abreise noch einmal sehen werde?, schoss es ihr flüchtig durch den Kopf, doch sie verscheuchte den Gedanken an ihren Vater sofort wieder.
Als sie in ihrem knielangen Kleid auf die Veranda trat, schüttelte Matui missbilligend den Kopf.
Vivian aber lachte. »Meinem Vater hat das Kleid auch nicht gefallen, aber ich ziehe es schließlich nicht für euch an. Und Fred gefällt es.«
Sie küsste Matui zum Abschied noch einmal überschwänglich und sauste los. Auf dem Weg durch den Busch dachte sie nur an das eine: Wie würde Fred reagieren, wenn sie plötzlich vor seiner Tür stand?
Als sie unten ankam, beschleunigte sich ihr Herzschlag, und ihre Knie wurden weich bei der Vorstellung, in wenigen Augenblicken den Mann zu küssen, den sie von Herzen liebte. Sie musste an ihre Großmutter Lily denken, die es in jeder Faser ihres Körpers gespürt hatte, dass Tamati der richtige Mann für sie war. Genauso empfand es Vivian. Allein bei dem Gedanken, dass seine Hände sie überall voller Leidenschaft berühren würden, rieselten wohlige Schauer durch ihren Bauch.
Als sie das Hotel betrat, atmete sie noch einmal tief durch, bevor sie den alten Mann an der Rezeption nach Mister Newman fragte.
»Die sind da«, brummte er und deutete in Richtung Speisesaal. Vivian dachte zunächst, sie habe sich verhört. Deshalb fragte sie noch einmal nach.
»Die?«
»Ja, der Mister und diese Dame, die heute angekommen ist.«
Vivian wurde so schwummrig, dass sie sich gegen die Wand lehnen musste. In ihrem Kopf drehte es sich. Ihr erster Gedanke war die Flucht, doch dann fragte sie sich, ob sie wohl ihres Lebens froh würde, wenn sie wegen eines bedauerlichen Irrtums auf ihr Glück verzichtete. Denn wer sagte, dass es eine Frau war, die privat zu ihm gehörte?
Vivian straffte die Schultern, stolzierte aufrecht in den Saal und sah sich um. Heute waren alle Plätze besetzt, und an einem Tisch, an dem nur Männer saßen, verstummten sämtliche Gespräche, als sie hereinkam. Oh, wie sie diese gierigen Blicke verabscheute, in denen geschrieben stand: Komm mit auf mein Zimmer!
Sie missverstanden Vivians suchenden Blick. Einer der Herren sprang nun von seinem Stuhl auf und rief durch den halben Saal: »Kommen Sie, hier ist noch ein freier
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