Der Schwur des Maori-Mädchens
die Finger gleiten. Im fahlen Mondlicht, das durch das Fenster in ihr Zimmer drang, bekam der Anhänger, ein silbernes Kreuz, einen besonders geheimnisvollen Glanz. Henry hatte es ihr von einer Reise nach Auckland mitgebracht. Sie drückte die Kette ans Herz. Ja, sie mochte ihren großen Bruder, aber sie hatte immer, wenn sie an ihn dachte, ein schlechtes Gewissen, denn dass es keine rein schwesterlichen Gefühle waren, ahnte sie sehr wohl.
Maggy aber war klug genug, ihre tiefe Liebe, die sie für den Ziehbruder empfand, vor der Familie zu verbergen. Schließlich war er schon ein erwachsener Mann und sie in seinen Augen sicher nur ein kleines Mädchen, auch wenn sie bald sechzehn wurde.
Ach, wenn er mich doch bloß als Frau sehen könnte!, ging ihr gerade sehnsüchtig durch den Kopf, als ein leises Pochen an der Tür sie aus ihren Gedanken schreckte. Sie fuhr hoch und saß senkrecht im Bett.
»Herein«, wisperte sie heiser und starrte dabei zur Tür. Sie war beinahe erleichtert, als sie Henrys Schopf im Mondlicht rotblond leuchten sah.
»Keine Angst, Maggy, ich wollte dir nur einen kleinen Besuch abstatten«, raunte er, während er leise die Tür hinter sich schloss und auf das Bett zutrat.
»Wir müssen nur leise sein. Meine Eltern sehen solche nächtlichen Besuche sicher nicht gern«, fügte er energisch hinzu und legte ihr zur Bekräftigung seiner Worte den Zeigefinger auf den Mund. Allein diese flüchtige Berührung ließ Maggy wohlig erschaudern. Ihr war zwar ein wenig seltsam zumute, dass er sie mitten in der Nacht aufsuchte, aber ihr Herz machte Luftsprünge.
»Na, meine Kleine? Frierst du nicht so allein im Bett?«, fragte er nun mit einschmeichelnder Stimme.
Auch das nahm Maggy mit widerstreitenden Gefühlen auf. Was wollte er mitten in der Nacht bei ihr?, fragte sie sich bang, während es in ihrem Bauch angenehm kribbelte, als er ihre Decke beiseiteschob und sich neben sie legte.
»Ich wärme dich«, flüsterte er.
Maggy war seine überraschende Nähe alles andere als unangenehm, aber sie musste daran denken, was wohl ihre Ziehmutter dazu sagen würde, wenn sie erfuhr, dass ihr Sohn sich zu ihr ins Bett gelegt hatte.
Dieser Gedanke ließ sie frösteln, und sie setzte sich kerzengerade auf.
»Ich glaube, deine Mutter würde das hier nicht gutheißen«, sagte sie mit ungewohnt schriller Stimme.
Henry aber legte ihr den Arm um den zitternden Körper.
»Du frierst ja wirklich«, bemerkte er in fürsorglichem Ton und zog sie zärtlich noch dichter zu sich heran.
Maggy war immer noch hin- und hergerissen. Sie fühlte sich geborgen in seinem Arm und wünschte sich, er möge sie nie mehr loslassen, doch dann dachte sie wieder an ihre Eltern. Und sie wusste genau, dass sie nicht gutgeheißen hätten, was hier geschah. Henry gehörte nicht in ihr Bett. So viel war sonnenklar.
»Weißt du eigentlich, dass ich dich bezaubernd finde?«, flüsterte er dicht an ihrem Ohr. In diesem Augenblick roch Maggy, dass Henry getrunken hatte. Er stank wie eine offene Karaffe Wein.
»Henry, du bist beschwipst«, murmelte sie mit leichtem Vorwurf in der Stimme. Er wusste doch, wie wütend sein Vater wäre, wenn er wieder einmal betrunken war. Gerade neulich erst hatte Maggy einen fürchterlichen Streit zwischen den beiden mit anhören müssen. Als verantwortungslosen Trunkenbold hatte sein Vater ihn gescholten. Maggy war es zutiefst unangenehm gewesen, dass die beiden sie nicht bemerkt hatten. Seitdem pflegte sie jedes Mal laut zu hüsteln, wenn sie das Esszimmer betrat. Sie wollte keine unfreiwillige Lauscherin sein.
Henry aber lachte aus voller Kehle. »Ja, meine Kleine, ich habe mir Mut angetrunken. Es ist gar nicht so einfach, an deine Zimmertür zu klopfen und Einlass zu begehren. Du hättest mich ja auch draußen stehen lassen können.«
Das hätte ich wohl auch besser tun sollen, durchfuhr es Maggy siedend heiß, als ihr Ziehbruder ihr zärtlich durchs Haar fuhr. Es ist nicht recht, sagte eine strenge Stimme in ihr. Schick ihn fort, bevor es zu spät ist! Doch da war wieder dieses Wohlgefühl, das ihren ganzen Körper durchströmte wie die erste Frühlingswärme.
»Magst du das, kleine Schwester, oder soll ich lieber aufhören?«, fragte Henry heiser.
Maggy kämpfte mit sich. Sie sollte ihn aus dem Zimmer werfen, aber sie brachte es nicht fertig. Seine Hände, die nun in ihrem Nacken angelangt waren, streichelten sie sanft. Und sie liebte ihn doch
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