Der Schwur des Maori-Mädchens
sollte.
Auch der Lärm, der ihm inzwischen aus dem Ort entgegenschallte, bereitete ihm keine Panik, sondern nur tiefe Abscheu. Was hatten diese zügellosen Pakeha nur aus der einst traumhaften Bucht gemacht? Er hatte sie nicht mehr anders gekannt, aber die Freunde, deren Stämme in dieser Gegend ansässig waren, wussten zu berichten, dass hier einst nichts als friedlicher Handel geherrscht hatte.
Dann blickte er nach links und sah am Fuß des Maikis unzählige Maori-Kanus liegen. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals. Da war etwas Ungewöhnliches in Gang, aber was ? Die Krieger hatten doch nicht etwa vor, den Fahnenmast zum zweiten Mal zu fällen? Das wäre ein großes Unrecht, hatte sein Ziehvater gesagt. Ohne den Mast würden die einlaufenden Schiffe in die Irre geleitet. Das leuchtete Matthew trotz seiner Sympathie für Hone Heke ein. Es wäre Unsinn, den Mast noch einmal zu fällen. Nein, sie werden sicherlich etwas Vernünftigeres Vorhaben, redete sich Matthew gut zu, aber was?
Voller Ungeduld befestigte Matthew sein Boot am Steg und tauchte in das Nachtleben von Kororareka ein. Es herrschte ein wildes Gedränge auf der Straße, die am Ufer entlangführte. Aus den Spelunken drang laute Musik, und Horden von Betrunkenen wankten wie Schiffe mit schwerer Schlagseite durch die Gegend. Matthew senkte den Blick. Er mochte den teils finsteren Gestalten kaum ins Gesicht blicken. Narbige und entstellte Gesichter, Männer wie Schränke mit fehlenden Gliedmaßen, zahnloses und stinkendes Gesindel, das war zu viel für den jungen Mann, der aus der heilen Welt von der anderen Seite der Bucht kam. Er begann zu rennen, doch da packte ihn plötzlich eine eiskalte Faust im Nacken.
»Biest du nischt ein von die Carringtons?«, fragte eine männliche Stimme in schrecklichem Englisch. Als Matthew sich umwandte, blickte er in das feixende Gesicht eines französischen Paters der katholischen Mission. »So, so, ier treibt sisch die Brut des ach so frommen Reverends also erum.«
»Lassen Sie mich sofort los!«, fauchte Matthew.
»Aber naturellement, Monsieur«, spottete der Pater und ließ ihn höhnisch lachend laufen. Ohne sich umzusehen, rannte der junge Maori fort, bis er völlig außer Atem oben am Berg stehen blieb und sich ängstlich umblickte, doch es war weit und breit keine Menschenseele mehr zu sehen. Und auch der Lärm drang nur noch von ferne zu ihm herauf. Er atmete ein paarmal tief durch, während er den Blick über die Bucht schweifen ließ, die der Vollmond in ein gelblich weißes Licht getaucht hatte. Die unzähligen Inseln dort draußen waren in winterlichen Nebel gehüllt. Ein wenig unheimlich war ihm in der Einsamkeit hier oben schon.
Mit zittrigen Knien nahm er den schmalen Pfad durch den Busch zu ihrem Treffpunkt, dem Fahnenmast auf dem Maiki Hill. Als dieser in Sichtweite kam, blieb Matthew abrupt stehen. Schauerliche und zugleich vertraute Klänge drangen zu ihm herüber. Ob sie tatsächlich noch einmal den Fahnenmast fällen wollten? Matthew atmete tief durch. Sein Herz sehnte sich danach, in ihre Gesänge einzustimmen, doch sein Verstand warnte ihn davor, sich dorthin zu begeben. Du kannst nie wieder zurück in dein altes Leben, mahnte ihn eine innere Stimme. Nun geh doch endlich, du Feigling!, ertönte ein Ruf, dem er sich nicht zu widersetzen wagte, denn es war ihm beinahe so, als würde sein Vater, der stolze Häuptling, zu ihm sprechen.
Paihia, am gleichen Abend, Juni 1844
Maggy konnte nicht einschlafen. Sie musste in einem fort an Henry denken und wälzte sich unruhig von einer Seite auf die andere. Schon als Kind hatte sie heimlich von ihrem großen Bruder geschwärmt. Er war so kräftig und strotzte vor Lebensfreude. Wenn es einer schaffte, sie zum Lachen zu bringen, dann war er es. Sie hatte fast ein schlechtes Gewissen, dass ihre Gedanken ohne Unterlass um Henry kreisten. Ihr Bruder Matthew mochte es nicht sonderlich, wenn sie einem anderen als ihm ihre ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte. Sie seufzte tief. Hoffentlich merkt er es nicht, dachte sie. Schließlich nahm sie ihm doch nichts. Keine Frage, dass sie ihn bedingungslos liebte. Schließlich war er ihr leiblicher Bruder, nur brachte er weder ihre Knie zum Zittern noch ihre Augen zum Strahlen. Das schafften nur ihre schwärmerischen Gedanken an Henry.
Sie tastete nach der Silberkette, die sie zum Schlafengehen auf dem Nachtisch abgelegt hatte, nahm sie zur Hand und ließ das Schmuckstück versonnen durch
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