Der Schwur
Ding mit einer mindestens zwanzig Zentimeter langen Klinge. Vor Schreck ließ Melanie das Handy fallen und wich zurück.
»Bist du verrückt geworden?«, schrie sie ihn an. »Was soll das denn?«
Er stieß ein paar Worte hervor, die fast wie ein Knurren klangen, und machte ein paar ruckartige Bewegungen mit dem Messer. Weg von dem Handy! So viel konnte Melanie verstehen, nur – was das sollte, begriff sie überhaupt nicht.
»Du bist ja bescheuert«, sagte sie wütend und ging vorsichtshalber drei Schritte zurück. »Bleib doch hier liegen mit deinem blöden Fuß! Mir ist es doch egal!«
Er knurrte wieder. Melanie wurde es etwas unheimlich zumute. War dieser Junge vielleicht wirklich verrückt? Irgendetwas Seltsames war an ihm, aber sie konnte nicht sagen, was es war – das Messer zog all ihre Aufmerksamkeit auf sich. Am liebsten wäre sie schnell weggefahren, aber sie konnte das Handy nicht einfach hierlassen.
Sie machte einen Schritt auf den Jungen zu. Er hob das Messer und knurrte wie ein Wolf.
Das war zu viel. Sie drehte sich um, lief zu ihrem Fahrrad, hob es auf und drehte auf dem Weg um. Der Junge rief ihr etwas nach. Es klang wie: »Warte!« Aber das konnte nicht sein, schließlich sprach er nicht Deutsch. Melanie stieg auf und radelte davon, ohne sich noch einmal umzusehen. Mit solchen Dingen kannten sich die Erwachsenen besseraus. Sie würde ihrer Mutter von dem Jungen erzählen und die würde sich dann darum kümmern.
Sonja kam zwei Stunden später nach Hause. Sie hatte zwischendurch Sirenengeheul gehört, sich aber nicht weiter darum gekümmert, und als sie über das Feld radelte, lag niemand mehr am Waldrand. Sie duschte, zog sich um und verschwand in ihrem Zimmer, um alle ihre Pferdebücher nach einer Rasse abzusuchen, die so aussah wie ihr geheimnisvolles graues Pferd.
Als sie gerade das fünfte Buch durchblätterte und sich an einem Abschnitt über Kaltblüter festgelesen hatte, platzte Paul herein – wie immer ohne anzuklopfen. »Melanie ist am Telefon«, verkündete er. »Sie klingt ganz komisch.«
Sonja blickte von ihrem Buch auf. »Wie, komisch?«
»Na, komisch halt. Sie hat ihr Handy verloren.«
»Das ist alles?« Melanies Handy war das Letzte, was Sonja im Augenblick interessierte. Konnte sie sich nicht einfach entschuldigen? Sonja hätte ihr so gerne alles erzählt. Andererseits wusste sie noch gar nicht, wie sie es erzählen sollte. Micky und Bjarni weg, der Waldhof verlassen – das war so schlimm, dass es sich am Telefon ganz schlecht besprechen ließ. Und alles andere ... Ein graues Pferd und sein schwarzsilberner Schutzgeist? Wer würde ihr das glauben? Alle würden nur sagen, sie sei endgültig übergeschnappt. Wenn Melanie es nun in der Schule weitertratschte ... nein, sie musste erst in Ruhe über alles nachdenken.
»Ich bin nicht da«, sagte sie und steckte die Nase wieder in ihr Buch.
Paul riss die Augen auf. »Habt ihr euch gezankt?«
»Quatsch. Sag einfach, dass ich nicht da bin.«
»Okay«, sagte Paul und verließ das Zimmer wieder – wie immer, ohne die Tür zuzumachen. Sonja überkam eine fürchterliche Ahnung, die sich im nächsten Moment bestätigte.
»Sonja sagt, es ist ihr egal und sie ist nicht da«, sagte Paul am Telefon. Dann hörte er ein paar Sekunden lang zu, sagte »Okay«, legte auf und kam zurück, übers ganze Gesicht grinsend.
»Melanie sagt, wenn du wieder da bist, soll ich dir sagen, dass du eine ganz blöde bescheuerte Zicke bist.«
»Und du bist eine Mistkröte!« Das Buch konnte sie nicht werfen, weil es sonst kaputtgegangen wäre. Aber mit einem Schuh ging es, und Paul zuckte blitzschnell zurück, als der Schuh dicht neben seinem Kopf gegen die Tür krachte. »Blöde bescheuerte Zicke«, sagte er genießerisch, wich auch dem zweiten Schuh aus und flitzte in sein Zimmer. Natürlich ließ er die Tür offen. Sonja schmetterte sie hinter ihm ins Schloss, drehte den Schlüssel herum und warf sich wieder auf ihr Bett.
Alles ging schief! Sie hatte bloß ein bisschen Zeit gewinnen wollen, und jetzt dachte Melanie, sie ließe sich verleugnen. Jüngere Brüder waren wirklich die Pest!
Sollte sie Melanie anrufen? Wenn sie es nicht tat, war der Bruch vielleicht endgültig. Und so viele Freundinnen hatte sie nicht, dass sie sich das leisten konnte. Keine Einzige, um genau zu sein.
Kurz entschlossen – bevor ihr Stolz es sich wieder anders überlegen konnte – schloss sie die Tür wieder auf und marschierte zum Telefon. Aber jetzt hatte es sich
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