Der Schwur
allein zum Waldhof gefahren? Oder war sie auf dem Weg zu Melanie, damit sie zusammen hinfahren konnten? Dann musste sie ja gleich ankommen und Melanie konnte ihr alles erklären. Sie wohnten ja nur fünf Minuten mit dem Fahrrad voneinander entfernt.
Während sie ihre abgewetzte Reithose und die Reitstiefel anzog, überlegte Melanie, was sie sagen wollte. »Nele und Annika sind ganz schön zickig. Ich wäre viel lieber mit dir zum Reiten gefahren ...« Nein – selbst in ihren eigenen Ohren klang das gelogen. Schließlich hatte sie Sonja gestern ganz schön abgefertigt. Sie würde sich schon entschuldigen müssen.
Nach zehn Minuten wurde sie ungeduldig. Warum kam Sonja denn nicht? Ein Blick aus dem Fenster zeigte nur die Straße, auf der ein paar Nachbarjungen Fußball spielten.
Noch immer nichts. Melanie warf einen Blick auf die Uhr. Selbst wenn Sonja sich am Kiosk noch ein Eis gekauft hatte, hätte sie längst da sein müssen.
Und wenn ihr etwas passiert war?
Vor fünf Jahren war im Forstwald eine Frau überfallen worden. Den Täter hatte man zwar gefasst, und danach war auch nie wieder etwas passiert, aber der Forstwald galt seitdem trotzdem als ein Ort, an dem alle möglichen schlimmen Dinge passieren konnten und von dem man sich fernhalten sollte. Melanies Mutter hatte ihr strengstens verboten, dort jemals allein hinzufahren.
Rasch schob sie den Gedanken weg, aber trotzdem schaute sie immer wieder unruhig auf die Uhr.
Nach einer halben Stunde war Sonja noch immer nicht da. Melanie schnappte sich ihre Reitkappe, warf die Haustür hinter sich zu, schloss ihr Fahrrad auf und machte sich auf den Weg zum Waldhof. Schließlich – was sollte dort schon Böses passieren? Das Schlimmste, was es dort gab, war Karl Frickels schlechte Laune, und die konnten sie problemlos ignorieren.
Das Wetter war eklig – nass und kalt, eine graue Wolkendecke lag tief über dem Land, als hätte es den Sommer nie gegeben. Zum Glück wehte fast kein Wind. Melanie strampelte sich ordentlich ab, um sich zu wärmen. Bei so einem Wetter würden sie sowieso nicht ausreiten, sondern bei den Ponys in der Box hocken, Sättel und Zaumzeug einfetten und sich unterhalten. Zumindest würden sie das tun, wenn sie sich nicht gestern beide so blöd verhalten hätten. Aber Sonja war eigentlich nicht nachtragend.
Melanie fuhr mit Schwung eine kleine Anhöhe hinauf. Von hier waren es nur noch fünfzig Meter bis zum Waldrand und knapp hundert Meter bis zum Hof. Sonja war bestimmt schon dabei, die Ponys zu putzen. Melanie würde sich einfach entschuldigen und –
Da lag jemand.
Melanie trat so hart in die Bremse, dass sie fast über den Lenker flog.
Am Waldrand lag ein Junge, etwa so alt wie sie. Er war trotz der Kälte barfuß und trug nur ein dreckiges braunes Hemd und eine mindestens ebenso dreckige Hose. Seine blonden Haare waren schon lange nicht mehr geschnitten worden und hingen ihm wirr ins Gesicht. Er lag zusammengekrümmt im Gras unter den Bäumen und zitterte am ganzen Körper.
Melanie war starr vor Schreck. Was sollte sie tun?
»Hallo?«, rief sie zaghaft.
Der Junge zuckte zusammen und blickte auf. Einen Moment lang sah er völlig verblüfft aus, dann verzog sich sein Gesicht zu einer wütenden Grimasse, und er rief ein paar Worte, die zornig und befehlend klangen – aber in einer anderen Sprache.
»Was?« Sie schob ihr Rad auf den Jungen zu. »Ich habe kein Wort verstanden. Was hast du gesagt? Bist du verletzt?«
Er antwortete nicht und schaute sie nur finster unter zusammengezogenen Brauen an. Aber so etwas jagte Melanie keine Angst ein – schließlich hatte sie zwei jüngere Cousins, gegen die sie sich jederzeit durchsetzen konnte. »Was ist los mit dir? Was ist passiert?«
Er hörte sie an und es schien so, als würde er wenigstens den Tonfall verstehen. Wütend zeigte er auf seinen rechten Fuß.
Melanie schaute hin und bemerkte, dass der Fußknöchel dick angeschwollen und dunkel verfärbt war. »Oh Mist. Du hast dir den Fuß gebrochen? Und seit wann liegst du hier herum? Sonja müsste dich doch gesehen haben – warte, ich rufe meine Mutter an, sie soll einen Krankenwagen oder so was –«
Sie brach ab. Während des Sprechens hatte sie ihr Handy aus der Tasche gezogen. Die Augen des Jungen wurden groß, er zuckte zusammen – und dann bewegte sich blitzschnell seine Hand zur Hüfte und er riss ein Messer vom Gürtel. Und das war nicht etwa ein Schweizer Taschenmesser oder dergleichen, sondern ein gefährlich aussehendes
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