Der Scout. Kleinere Reiseerzählungen, Aufsätze und Kompositionen
sichtbaren Fäden zuckten nicht; sie waren vollständig unbeweglich, wie fest angespannt.
»Nun?« fragte Will.
»Ich habe auch nie etwas Aehnliches gesehen.«
»Sollte dieser junge Mensch, der Indsman, recht behalten mit seinem Wirbelwinde, uns alten, erfahrenen Savannenleuten gegenüber!«
»Bedenklich sieht es aus. Der Apache sprach gar von einer Windhose. Das wäre noch schlimmer.«
»Es mag sein, was es wolle, wir müssen es eben abwarten. Ich hoffe, du kannst dich in deiner Indianerschrift besser zurechtfinden als da oben in dem unbegreiflichen Fadengewirr. Wie steht es?«
»Hm! Wollen sehen! Da vorn sehe ich eine Sonne gemalt mit nur aufwärtsgehenden Strahlen, also wohl die aufgehende Sonne. Dann kommen vier Reiter. Sie haben Hüte auf, sind also wahrscheinlich Weiße. Der vorderste hat etwas am Sattel hängen; kleine Säcke sollen es wohl sein. Hinter diesen vieren kommen zwei andere. Sie haben Federn auf den unbedeckten Köpfen, dürften also wahrscheinlich Indianerhäuptlinge vorstellen.«
»Na, das ist ja alles sehr einfach. Nennst du das etwa lesen?«
»Es ist der Anfang dazu. Man muß erst die Buchstaben kennen lernen, ehe man sie zu Wörtern zusammenzusetzen vermag. Es befinden sich nun noch einige kleinere Figuren hier, welche über den größeren angebracht sind. Ueber dem einen Indianer sehe ich einen Büffel, welcher das Maul öffnet, aus dem einige kleine Striche hervorgehen. Aus dem Maule kann nur die Stimme hervorgehen; es ist also wohl ein brüllender Stier gemeint. Ueber dem Kopfe des anderen Indsman ist eine Tabakspfeife, aus deren Kopf ähnliche Striche hervorgehen; das soll wohl Rauch bedeuten. Die Pfeife brennt also.«
»Du, ich fange an, lesen zu können!« sagte Will. »Da fällt mir ein, daß es zwei Apachenhäuptlinge gab, zwei Brüder; der eine war der ›brüllende Büffel‹ und ist seit langem tot; der andere hieß die ›brennende Pfeife‹, weil er von friedlicher Gesinnung war und gern mit jedermann die Friedenspfeife rauchte. Er soll noch leben.«
»So sind vielleicht gar diese beiden gemeint! Wollen sehen! Ueber den zweiten Weißen ist ein Auge gemalt mit einem hindurchgehenden Strich. Entweder hat er nur ein Auge, oder er ist auf dem einen blind, oder das Auge ist krank. Ah, das wäre ja der Name, den du vorhin nanntest: ›böses Auge!‹ Das soll wohl heißen, boshaftes Auge. Und über dem dritten Weißen ist ein Beutel mit einer danach greifenden Hand. Sollte das Diebstahl bedeuten?«
»Ja, ja, gewiß!« sagte Salters schnell, »die stehlende Hand. Ich hab’s, ich hab’s! Jetzt weiß ich, wo ich diesen Rollins gesehen habe! Nämlich droben in den schwarzen Bergen; er hieß Haller, war ein Pferde-und Biberfallendieb und wurde die ›stehlende Hand‹ genannt.«
»Du wirst dich irren!«
»Nein, nein! Die ›stehlende Hand‹ und das ›böse Auge‹ waren Vettern oder gar Brüder und hielten zusammen. Sie sind gemeint. Weiter, weiter!«
»Da die aufgehende Sonne voran steht, so sind diese Reiter nach Sonnenaufgang, also nach Osten geritten. Hier auf der zweiten Zeile kommen dieselben Figuren wieder vor, und zwar öfters und in verschiedenen Gruppen. Erste Gruppe: die drei hinteren Weißen schießen auf den Voranreitenden. Zweite Gruppe: er liegt tot am Boden, und sie haben seine Säcke oder Beutel. Dritte Gruppe: die Indianer schießen auf die drei Weißen. Vierte Gruppe: Zwei Weiße und ein Indianer, der ›brüllende Büffel‹, sind tot; die ›stehlende Hand‹ entflieht. Fünfte Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ vergräbt die Beutel. Sechste Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ hat den ›brüllenden Büffel‹ auf dem Pferde und reitet hinter der ›stehlenden Hand‹ her, verfolgt ihn wahrscheinlich. Siebente Gruppe: die ›brennende Pfeife‹ begräbt den ›brüllenden Büffel‹; die ›stehlende Hand‹ ist verschwunden. Nun kommen noch zwei kleine Bilder. Da stehen drei Bäume; unter dem mittleren stecken die Beutel in der Erde. Und dann kommt ein großer, einzelner Baum, unter welchem man den ›brüllenden Büffel‹ in der Erde liegen sieht; sein Grab also. Jetzt löst sich das ganze, schaurige Erlebnis leicht – – –«
»Halt!« unterbrach mich Salters. »Laß einmal diese Angelegenheit auf sich beruhen und blicke in die Höhe! Merkst du denn nicht, daß es ganz finster wird. Siehe dir doch um Gotteswillen einmal den Himmel an!«
Ich folgte seiner Aufforderung und erschrak. Die erwähnten mattgoldenen Fäden waren verschwunden. An ihrer
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