Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
Beitrag zu den Gottesdiensten und anderen geistlichen Tätigkeiten zu leisten hatte.
Im Moment bestand der wichtigste Teil ihre Arbeit darin, Menschen kennenzulernen und sich im Gegenzug von ihnen einschätzen zu lassen, zuzuhören und zu lernen. Es war ein ausgefüllter Nachmittag, an dessen Ende sie bei einem Mann saß, der ein paar Wochen vor seinem hundertsten Geburtstag stand und entschlossen war, wie er sagte, »auf jeden Fall das Telegramm abzuwarten«. Er war wie ein kleines Vögelchen, nur Haut und Knochen, winzig in seinem Bett, seine Haut von der Farbe einer Talgkerze, doch mit leuchtenden Augen.
»Ich schaff das, junger Reverend«, sagte Wilfred Armer und drückte Janes Hand. »Ich blas alle Kerzen aus, Sie werden schon sehen.«
Jane bezweifelte, dass er die nächsten vierundzwanzig Stunden überleben würde. Er wollte, dass sie bei ihm blieb, zuhörte, während er ihr mit pfeifendem Atem Geschichte auf Geschichte aus seiner Kindheit erzählte, vom Fischen im Lafferton-Kanal und vom Schwimmen im Fluss.
Als sie das Gebäude verließ, schaltete sie das Handy wieder an. Die Mailbox hatte eine Nachricht für sie. »Jane?« Magda Fitzroys Stimme klang fern und seltsam. »Bist du da? Jane?«
Sie drückte auf die Ruftaste. Es kam keine Antwort, und diesmal sprang auch der Anrufbeantworter nicht an. Sie setzte sich unter einen Baum und überlegte, was sie tun sollte. Jane hatte noch die Nummer eines Nachbarn ihrer Mutter in Hampstead, aber der war für drei Monate in Amerika. Das Haus auf der anderen Seite gehörte einem ausländischen Geschäftsmann, der nie da zu sein schien. Die Polizei? Die Krankenhäuser? Sie zögerte, weil es ihr zu dramatisch erschien, die Polizei einzuschalten, wenn sie nicht einmal wusste, ob irgendetwas passiert war.
Die Klinik. Deren Nummer hatte sie gespeichert. Weitere Nummern mochten sich bei ihren Sachen befinden, die immer noch in Kisten im Gartenhaus des Kantors standen.
Ein Junge holperte auf seinem Fahrrad über das Kopfsteinpflaster und riss dabei das Vorderrad hoch. Jane lächelte ihm zu. Er reagierte nicht darauf, aber als er an ihr vorbei war, drehte er sich um und starrte sie an. Sie war daran gewöhnt. Hier saß sie, eine junge Frau in Jeans, dazu ein Kollar – der steife weiße Kragen eines Geistlichen. Das überraschte die Menschen immer noch.
»Heathside Klinik.«
»Hier ist Jane Fitzroy. Ist meine Mutter zufällig da?«
Magda Fitzroy behandelte nach wie vor ein paar Patienten an ihrer alten Arbeitsstelle, obwohl sie im Jahr zuvor offiziell in Pension gegangen war und jetzt mit einer befreundeten Kollegin an einem Lehrbuch über Kinderpsychiatrie schrieb. Magda vermisste die Klinik, wie Jane wusste, vermisste die Menschen und ihre eigene Rolle dort.
»Entschuldigen Sie, dass Sie warten mussten. Niemand hat Dr. Fitzroy heute gesehen, aber sie wurde auch nicht erwartet. Sie hat diese Woche keine Termine hier.«
Während der nächsten Stunde versuchte es Jane mehrfach unter der Nummer ihrer Mutter. Nichts. Immer noch keine Antwort und kein Anrufbeantworter.
Dann ging sie hinüber zum Dekanat. Geoffrey Peach war nicht da, und sie hinterließ eine Nachricht. Als sie Richtung Autobahn fuhr, war es früher Nachmittag.
Je näher sie London kam, desto dichter wurde der Verkehr, und auf dem Haverstock Hill steckte sie zwanzig Minuten lang im Stau. Von Zeit zu Zeit wählte sie die Nummer ihrer Mutter, und beim Abbiegen auf den Heath Place wünschte sie, doch die Polizei angerufen zu haben.
Als sie das georgianische Cottage erreichte, sah sie, dass die Eingangstür nur angelehnt war.
Im Flur meinte Jane zunächst, alles sei wie immer, doch dann bemerkte sie, dass die Lampe, die sonst auf dem Walnusstisch gestanden hatte, zerbrochen am Boden lag. Der Tisch selbst war verschwunden.
»Mutter?«
Magda verbrachte die meiste Zeit in ihrem Arbeitszimmer, das zum Garten hinausging. Jane liebte dieses Zimmer mit den purpurroten Wänden und dem weichen, mit Kissen bedeckten Sofa, den Papieren ihrer Mutter und den Büchern, die jede freie Fläche vom Schreibtisch über die Sessel bis zum Boden bedeckten. Das Zimmer hatte einen besonderen Geruch, teilweise, weil die Fenster fast immer offenstanden, selbst im Winter, was die Gartengerüche hereinwehen ließ, und außerdem rauchte ihre Mutter manchmal Zigarillos, deren Rauch sich über die Jahre in den Stoffen des Zimmers festgesetzt hatte.
Der Raum war verwüstet. Die Bilder waren von den Wänden gerissen, jedes Stück
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