Der Seele schwarzer Grund: Kriminalroman (Knaur HC) (German Edition)
unter den breiten, ausladenden Bäumen. Die Chorknaben bewegten sich im Gänsemarsch vom Probenraum zur Seitentür und zur Abendandacht, in dunkelroten Soutanen unter weißen Chorhemden. Sie hoffte, dass Felix ein Chorknabe werden würde. Sam hatte sich der Idee nachdrücklich widersetzt. Chris war ebenfalls dagegen. Das Probenpensum war aufreibend, sagte er, Frühgottesdienste, alle Sonntage zerstückelt, dazu noch Abendproben, die Ferien oft unterbrochen von Auftritten in anderen Kirchen im In- und Ausland. Trotzdem, zu hören, wie Felix seine Stimme in melodischer Nachahmung hob, wenn sie vor den Chorproben der St.-Michael-Sänger hier und da mal einen Takt sang, ermutigte Cats heimliche Ambitionen.
Sie sah die Jungen durch die Tür verschwinden, überlegte, ob sie auch hineingehen und sich die Abendandacht anhören sollte, statt sich ihren Bruder vorzuknöpfen, doch während sie noch schwankte, kam Simons Auto durch den Torbogen und fuhr auf die Gebäude am Ende des Hofes zu. Sie ging hinter ihm her.
Simon stieg aus.
»Hi.«
Er drehte sich um. »Aha. Bist du gekommen, um mit mir die Friedenspfeife zu rauchen? Bin mir nicht sicher, ob ich dazu schon bereit bin.«
»Nein. Ich kam gerade von einem Patienten in der alten Bortenfabrik und habe mitbekommen, wie Max Jameson von zwei Polizisten abgeführt wurde.«
»Davon weiß ich nichts, tut mir leid.«
»Ich muss wissen, was passiert ist, Si. Deine Kollegen wollten mir natürlich nichts sagen, aber er ist in schlechter Verfassung, und ich mache mir große Sorgen um ihn.«
»Sie werden sich schon darum kümmern. Der Sergeant wird den Polizeiarzt holen, und der wird den Psychologen vom Dienst anfordern, wenn er es für nötig hält. Du weißt, wie das läuft.«
»Ich müsste selbst zu ihm.«
Simon schüttelte den Kopf. »Ich werde mich morgen darum kümmern.«
Sie standen im Schatten des Gebäudes, und in der schalen Hitze des Tages standen nach wie vor Anspannung und Verärgerung zwischen ihnen. Streit mit Simon verstörte Cat mehr als alles andere, vielleicht mehr als die wenigen Auseinandersetzungen, die sie je mit Chris gehabt hatte, weil Chris aufbrauste und es dann vergaß, Chris war vernünftig, offen, freimütig. Simon war nichts davon.
»Er hat ein ziemlich ernstes Vergehen begangen, als er die junge Geistliche gefangen hielt.«
»Sie hat keine Anzeige erstattet.«
»Nein, aber was uns betrifft, ist es vermerkt worden.«
»Er stand völlig neben sich. Er sagte, er hätte seine tote Frau gesehen.«
»Es liegt nicht in deinen Händen. Überlass es einfach uns.«
»Was ist nur los mit dir? Das klingt nicht nach dem Bruder, den ich kenne.«
Er wandte sich ab. »Was vielleicht daran liegt, dass du deinen Bruder nicht kennst.«
Cat sah, wie er seine Haustür öffnete, hineinging und sie hinter sich zufallen ließ. Er bat sie nicht mit hinauf. Er blickte sich nicht um. In Tränen aufgelöst, ging sie langsam zu ihrem Auto und rief zu Hause an.
»Cat?«
»Ich bin unterwegs. Wurde aufgehalten.«
»Was ist los?«
»Ach, nichts, musste nur bei Simon vorbeifahren, um was zu überprüfen.«
»Und was hat dein verdammter Bruder gesagt? Ich bin’s leid, dass er dir so zusetzt.«
»Er setzt mir nicht zu.«
»Wenn du das sagst.«
»Du weißt doch, wie er ist.«
»Allerdings weiß ich das! Komm nach Hause. Wir lieben dich.«
»Ich mache mir Sorgen um Max Jameson.«
»Und du hast dienstfrei. Vergiss es. Hannah hat einen goldenen Stern für Ordentlichkeit bekommen.«
»Na, so was!«
»Ich hab den Lachs gebraten. Hannah hilft mir beim Kartoffelsalat.«
»Wo ist Felix?«
»Schaut sich Wimbledon an.«
»Chris, du weißt doch, dass du ihn nicht vor den Fernseher setzen sollst.«
»Hab ich auch nicht, das war Sam. Sie sind beide in Miss Scharapowa verliebt.«
Cat lachte.
»Gut. Jetzt komm zu uns nach Hause.«
Sie machte einen Umweg über die Gas Street und hielt am oberen Ende an. Die Straße lag friedlich da. Max würde in Gewahrsam sein. Vielleicht würde man ihn später am Abend wieder gehenlassen. »Ich hab Lizzie gesehen, und sie ist vor mir weggelaufen. Ich bin ihr gefolgt.« Man tat sich leicht, seinem Geisteszustand ein Etikett anzuhängen. Wahnvorstellungen. Halluzinationen. Die menschlichere Bezeichnung war Leiden. Wie viele medizinische Probleme waren in erster Linie menschliche Probleme?
Aber es war Simon, an den sie während der restlichen Heimfahrt dachte. Sie konnte es nicht ausstehen, wie er sich manchmal benahm, diese kalte
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