Der Seele weißes Blut
Wenn wir nur wüssten, was dieser Mist soll! Ich bin mir sicher, dass die Bedeutung ganz banal ist. Der Mörder will, dass wir seine Zeichen finden und dass wir sie verstehen. Die Lösung liegt auf der Hand. Wir kommen nur nicht drauf.«
»Mich wundert, dass die Leiche einen ganzen Tag dort gelegen hat, bevor sie gefunden wurde«, sagte Köster.
»Das ist in der Tat erstaunlich«, stimmte Lydia ihm zu. »Auf der anderen Seite war am Donnerstag ziemlich trübes Wetter. Und außerdem befand sich die Grube unter ein paar tief hängenden Zweigen, man musste darunterkriechen, um die Tote zu sehen.«
»In der Rechtsmedizin haben sie Hundehaare an dem Leichnam gefunden«, ergänzte Salomon. »Und zwar von verschiedenen Rassen. Vermutlich haben die Besitzer an ein Kaninchen gedacht, als ihre Tiere angeschlagen haben.«
»Oder sie waren zu bequem nachzusehen«, sagte Köster mit einem Seufzen.
Lydia wandte sich an Ruth Wiechert. »Habt ihr gestern noch etwas Interessantes von dem Baumarktleiter erfahren?«
Wiechert warf Mörike einen fragenden Blick zu. Als dieser nickte, erklärte sie: »Der Typ schien ehrlich bestürzt über den Tod seiner Angestellten. Näher kannte er sie aber angeblich nicht. Ich hatte den Eindruck, dass er an Frauen grundsätzlich nicht sonderlich interessiert ist. Dafür hat er sich sehr angeregt mit unserem Sebastian unterhalten.« Sie lächelte, doch Mörike warf ihr einen verärgerten Blick zu.
»Und, war er dein Typ?«, fragte Hackmann und zwinkerte anzüglich in Mörikes Richtung.
»Halt die Klappe, Hackmann!«, zischte Lydia.
Wiechert zückte ihren Notizblock. »Er hat ein wenig herumgedruckst, als wir ihn fragten, warum Kristina Keller vom Schauspielhaus in einen Baumarkt gewechselt hat. Er sagte etwas von einem unschönen Vorfall, von einer Frau, die mit männlichen Kollegen zusammenarbeitet. Konkretes wusste er aber angeblich nicht.«
»Mörike«, sagte Lydia. »Frag nachher mal beim KK 12 nach, ob die eine Kristina Keller in ihren Akten haben. Vielleicht hat sie ja Anzeige wegen sexueller Belästigung erstattet.«
»Mach ich.« Mörike schien immer noch sauer. Vermutlich nicht nur, weil er diesmal das Opfer von Hackmanns Sticheleien geworden war, sondern auch weil Lydia ihn penetrant mit seinem Nachnamen ansprach. Aber etwas anderes kam für sie nicht infrage. Damit wollte sie gar nicht erst anfangen. Sie nannte keinen der Kollegen beim Vornamen, nicht einmal Köster.
»Ach, übrigens«, platzte Wiechert heraus. »Ich weiß ja nicht, ob das wichtig ist, aber angeblich ist bei Kristina Keller kürzlich eingebrochen worden.«
Lydia zuckte zusammen. »Wann denn?«
»Das wusste ihr Chef nicht mehr so genau. Es ist auch nichts gestohlen worden, deshalb hat sie keine Anzeige erstattet.«
»Als wir in der Wohnung waren, sind mir keine Einbruchspuren aufgefallen«, sagte Salomon nachdenklich. »Wurde die Tür aufgebrochen?«
»Nein. Es gab nirgendwo Einbruchspuren. Kristina Keller hatte keine Ahnung, wie der Täter in die Wohnung gekommen ist.«
»Keine Einbruchspuren und nichts gestohlen. Woher wusste sie dann, dass jemand in der Wohnung war?«, wollte Meier wissen.
»Sie hat ihrem Chef erzählt, dass einige Dinge nicht an ihrem Platz lagen. Und im Bad hatte der Kerl mit roter Farbe etwas an die Wand gemalt.«
Lydia setzte den Kaffeebecher ab, den sie gerade in die Hand genommen hatte. Ihr war plötzlich eiskalt. Nein, dachte sie, das kann nicht sein. Das kann einfach nicht sein. Sie sah Ruth an. »Wusste er auch, was?«
Ruth verdrehte die Augen. »Das Ganze ist wirklich kurios, wenn ihr mich fragt. Angeblich war es ein Fisch.«
21
Sandra Thierse stellte das Bügeleisen ab und horchte. Es war vollkommen still. Zu still. Normalerweise hörte sie immer von irgendwoher Geräusche, wenn ihr Sohn im Haus war. Das Scheppern der Legosteine, wenn er in der Kiste wühlte. Das Poltern seiner kleinen Füße auf der Treppe, wenn er im Kampf mit Drachen und Rittern durchs Haus stürmte, oder gedämpftes Stimmengewirr, wenn er einer seiner Lieblingsgeschichten auf CD lauschte. Still war es nur, wenn er etwas tat, das sie nicht mitbekommen sollte.
Sandra trat aus dem Schlafzimmer in den Flur. Noch immer war nichts zu hören. Seit Jakob diesen Knochen gefunden hatte, hatte er sich verändert. Er war nachdenklicher geworden, in sich gekehrt. Sie hatten darüber gesprochen, über Leben und Tod und über das, was nach dem Tod mit einem Lebewesen geschieht. Er hatte alles ganz genau wissen
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