Der Seele weißes Blut
Rita war alles andere als ein junges Reh. Sie hatte ein eher plumpes, unscheinbares Äußeres. Aber sie hatte eine gute Nase und war eine angenehm zurückhaltende Kollegin. Anders als Lydia Louis, deren ruppige, launische Art ihm jedes Mal auf die Nerven ging, wenn sie zusammenarbeiteten. Da half es auch nichts, dass sie ausgesprochen hübsch und zudem eine grandiose Ermittlerin war.
Frau Kästner ging am Stock und trug ein knielanges rosa Nachthemd mit Spitzenkragen. Offenbar hatte sie sich schnell noch eine Strickjacke angezogen, als es an der Tür geklingelt hatte, die jetzt mit der Naht nach außen über ihren Schultern hing. Behutsam erklärte Halverstett der Frau, die ihm nur bis zur Brust reichte, dass es um ihren Sohn gehe, der 1978 spurlos verschwunden war. Augenblicklich schossen ihr die Tränen in die Augen.
»Haben Sie ihn gefunden?«, flüsterte sie mit zitternder Stimme.
Halverstett verfluchte wortlos seine Arbeit, wie immer, wenn er es mit Angehörigen zu tun hatte. Dann sagte er sanft: »Es könnte sein, dass wir einen Hinweis auf seinen Verbleib haben. Aber im Moment sind unsere Informationen noch sehr vage. Sie haben zwischenzeitlich nichts von Ihrem Sohn gehört?«
»Ich?« Sie sah ihn verwundert an. »Ich habe seit dem vierten August 1978 nichts von ihm gehört.« Unbeholfen zog sie ein Taschentuch aus dem Ärmel ihres Nachthemdes und wischte sich über die Augen. »Seit dem vierten August 1978«, wiederholte sie. »Was ist denn mit ihm?«
»Frau Kästner, wir bräuchten eine Speichelprobe von Ihnen, um eine DNA-Profilanalyse durchzuführen. Sind Sie damit einverstanden?«
»Wozu brauchen Sie eine Speichelprobe? Ich verstehe nicht.« Die Frau sah zunehmend verwirrt aus.
Rita griff ein. »Wir haben Gebeine gefunden. Im Aaper Wald. Es handelt sich vermutlich nicht um die sterblichen Überreste Ihres Sohnes, Frau Kästner. Aber um ganz sicherzugehen, müssen wir diesen Test durchführen, von dem mein Kollege sprach.«
Frau Kästner riss ungläubig die Augen auf. »Im Aaper Wald, sagen Sie? Wie soll er denn dahin gekommen sein?«
»Meine Kollegin sagte doch, dass es vermutlich nicht Ihr Sohn ist«, erklärte Halverstett. Es gelang ihm nicht, den ungeduldigen Unterton in seiner Stimme ganz zu verbergen. Er wollte weg hier, weg von dieser Frau und ihrem Kummer. Sich aus seiner Verantwortung stehlen für das, was er gerade mit ihrem Leben anrichtete. Vermutlich würde sie noch tagelang aufgewühlt sein und ungeduldig auf einen weiteren Besuch der Polizei warten, der ihr endlich, nach mehr als drei Jahrzehnten, Gewissheit brachte. Doch höchstwahrscheinlich würde sie vergeblich hoffen. »Ein paar Haare von Ihrem Sohn würden es auch tun. Haben Sie vielleicht seine Haarbürste noch?«, fügte er rasch hinzu.
»Ich habe all seine Sachen noch«, sagte sie beinahe vorwurfsvoll. »Vielleicht kommt er ja eines Tages wieder. Ich kann doch nicht einfach ohne seine Zustimmung sein Hab und Gut wegwerfen.« Sie richtete sich auf und sah zu ihm hoch. »Was muss ich für diese Probe tun?«
»Nur kurz den Mund öffnen.« Rita trat vor und nahm das Röhrchen aus ihrer Tasche.
»Wann sagen Sie mir Bescheid, ob es mein Sohn ist?«, fragte Frau Kästner, nachdem Rita die Probe genommen hatte.
»Es kann ein paar Wochen dauern, bis wir die Test-ergebnisse haben«, erklärte Halverstett. »Also haben Sie bitte ein wenig Geduld.«
»Ich warte seit über dreißig Jahren, Herr Kommissar«, erwiderte sie. »Sie können wohl kaum von mir behaupten, dass ich ungeduldig bin.«
Auf dem Weg zum Wagen sprachen sie kein Wort. Frau Kästner war die Dritte auf ihrer Liste gewesen, sieben fehlten noch. Ehemänner, Söhne, Väter. Alle zwischen 1975 und 1995 im Großraum Düsseldorf verschwunden, alle zum Zeitpunkt ihres Verschwindens zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt. Lauter ungeklärte Schicksale, mit denen unendlich viel Leid für die Angehörigen verbunden war.
»Was für ein beschissener Tag«, stieß Rita hervor, nachdem sie die Wagentür zugeschlagen hatte.
Halverstett blickte sie an. »Sollen wir eine Pause machen oder es schnell hinter uns bringen?«
»Je schneller, desto besser«, erwiderte sie. »Und danach will ich mein wohlverdientes Wochenende.«
»Okay. Wen haben wir als Nächstes?«
Rita zog ihr Notizbuch hervor. »Marcus Ortmeier, bei seinem Verschwinden achtunddreißig Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. Er wird vermisst seit dem dreizehnten Mai 1991. Angeblich wollte er nur Zigaretten
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