Der Seele weißes Blut
vermutlich wurde sie ebenfalls mit Flunitrazepam ruhiggestellt. Allerdings gibt es Unterschiede. Erstens: Sie wurde geknebelt. Zweitens: Sie starb vermutlich deutlich schneller als Kristina Keller. Eine Verletzung am Scheitelbein hat mit großer Sicherheit sofort zum Tod geführt. Mit Ausnahme des gebrochenen Nasenbeins haben viele der Wunden an ihrem Kopf kaum oder gar nicht geblutet, was heißt, dass sie schon tot war, als die Steine sie trafen. Es sieht so aus, als hätte unser Täter sie mit einigen wenigen Schlägen getötet und nicht langsam gesteinigt wie beim ersten Mal. Meine Vermutung ist, dass er es eilig hatte, weil der Tatort sehr zentral liegt. Deshalb auch zusätzlich der Knebel. Fragt sich, warum er diesen Ort wählte.«
»Könnte es nicht auch ein Trittbrettfahrer gewesen sein?«, fragte Ingo Wirtz.
»Das glaube ich nicht«, antwortete Lydia. »Außer uns wusste niemand, wie Kristina Keller gestorben ist. Der Presse haben wir nur die Personenbeschreibung und den ungefähren Tatort mitgeteilt, sonst nichts.«
»Trotzdem gibt es jemanden außer uns, der Bescheid wusste«, sagte Schmiedel. »Und zwar das Opfer Nummer zwei.«
»Wir wissen, wer die Tote ist?«, rief Köster erstaunt dazwischen.
Salomon räusperte sich. »Es gibt starke Anhaltspunkte dafür, dass es sich um die Frau handelt, die unsere erste Tote gefunden hat, Ellen Dankert.«
Köster riss verblüfft die Augen auf. »Ist das wahr?«
»Wir waren gestern Abend noch bei Ihrem Ehemann«, antwortete Schmiedel an Salomons Stelle. »Wir haben eine Haarprobe besorgt und direkt zum LKA gebracht. Unsere Profilanalyse hat zwar höchste Dringlichkeitsstufe, aber vor morgen haben wir trotzdem kein Ergebnis. Bis dahin ist also noch alles offen.«
»Ach, übrigens, Louis«, sagte Meier. »Wir haben Halverstett getroffen. Der sammelt gerade Speichelproben im Zusammenhang mit seinem Knochenfund. Wir sollen dir sagen, dass es sich um einen Mann handelt, zwischen dreißig und fünfundvierzig Jahre alt, gestorben zwischen 1975 und 1995. Hat wohl nichts mit unserem Killer zu tun.«
»Hm, gut. Danke«, erwiderte Lydia zerstreut. An die Knochen hatte sie gar nicht mehr gedacht. Seit Salomon ihr gestern von dem Fall in Köln erzählt hatte, war für sie klar, dass dort der Ausgangspunkt des Falls lag, und nicht im Aaper Wald.
Erik Schmiedel riss sie aus ihren Gedanken. »Was ich eben sagen wollte: Ellen Dankert wusste, wie Kristina Keller gestorben ist. Zumindest ungefähr. Sie könnte es jemandem erzählt haben. Ihrem Mann zum Beispiel.«
»Okay«, sagte Lydia. »Wir behalten diese Möglichkeit im Auge.« Sie glaubte nicht an einen Nachahmungstäter, aber dieser Dankert war ihr suspekt. Der hatte Dreck am Stecken, da war sie sicher. »Wenn die Tote tatsächlich Ellen Dankert ist, müssen wir uns eh mit ihrem Mann beschäftigen.«
»Wegen der alten Verletzungen?«, fragte Köster.
»Genau«, antwortete Salomon. »Philipp Dankert hat sich sehr merkwürdig verhalten, als wir ihn gestern besucht haben. So als hätte er etwas zu verbergen. Irgendwie schien er gar nicht zu wollen, dass wir seine Frau finden. Ich könnte wetten, dass er sie regelmäßig verprü-gelt hat.«
»Dieses Schwein«, stieß Meier hervor. »Vielleicht ist er diesmal zu weit gegangen.«
»Und danach hat er es so hingestellt, als sei es eine weitere Tat dieses Steinewerfers«, ergänzte Schmiedel.
»Also doch ein Trittbrettfahrer«, meinte Wirtz selbstzufrieden.
»Möglich wäre es«, räumte Lydia ein. »Philipp Dankert ist auf jeden Fall verdächtig. Wir überprüfen sein Alibi. Auch für Montagnacht. Man weiß ja nie. Allerdings gibt es da noch einen Grund, warum ich nicht an einen Trittbrettfahrer glaube.«
»Neue Schriftzeichen?«, fragte Schmiedel.
»Genau. Und zwar …« Lydia blätterte in den Unterlagen und zog die Fotos hervor, die Spunte wie versprochen auf ihren Schreibtisch gelegt hatte, »… 1VOR71. Diesmal aus Steinen gelegt. Wirklich sehr originell. Bei dem Baumstamm war ich ja noch etwas unsicher, ob das wirklich etwas mit dem Mord zu tun hat. Aber ein zweiter Tatort mit ähnlichen Schriftzeichen, das ist bestimmt kein Zufall. Und davon wusste Ellen Dankert definitiv nichts. Das kann sie also auch nicht ihrem Mann erzählt haben.«
»Bist du sicher?«
Lydia zuckte die Schultern. »Ziemlich. Wir haben es ihr gegenüber nicht erwähnt. Und dass sie die Schriftzeichen selbst gesehen hat, halte ich für unwahrscheinlich. Der Baum stand ziemlich abseits vom Weg.
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