Der Seele weißes Blut
holen, doch er kehrte nie zurück. Der Klassiker.«
»Wo wohnt die Familie?«
»In Gerresheim. Am Poth.«
»Das liegt direkt am Wald.«
»Ich weiß.«
»Dann mal los.« Halverstett lenkte den Wagen aus der Parklücke und fuhr in nördlicher Richtung davon. Aus den Augenwinkeln sah er eine Bewegung am Fenster im zweiten Stock des Hauses, das sie gerade verlassen hatten.
19
Sommer 1984
Auf dem Hof am Ende der Straße gibt es junge Kätzchen. Kerstin hat es ihm erzählt. Sie sind noch so klein, dass ihre Augen geschlossen sind. Was mag das wohl heißen? Warum sollte jemand zu klein sein, um die Augen zu öffnen? Machen kleine Babys auch nicht die Augen auf? Er will sich die Kätzchen ansehen. Aber er darf nicht allein aus dem Haus. Er darf nur im Garten und in seinem Zimmer spielen. Und niemand will mit ihm dort hingehen. Mama bügelt im Wohnzimmer, Kerstin ist bei einer Freundin.
Er schleicht hinaus. Die Tür lehnt er an, sonst kommt er ja nicht wieder rein. Er wird nicht lange wegbleiben. Nur schnell die Straße hinunterlaufen, nach den Kätzchen sehen und wieder zurückrennen. Das dauert nicht lange. Die Kätzchen liegen in der Scheune im Stroh und quietschen. Sie sind winzig, und ihre Augen sind tatsächlich zu. Vielleicht schlafen sie. Aber sie schreien so laut, das kann nicht sein. Von ihrer Mutter ist nichts zu sehen. Auch sonst ist niemand da.
Warum kümmert sich denn niemand um die armen Tierchen? Sicherlich haben sie Hunger. Ein kleines schwarzes Kätzchen schreit besonders jämmerlich. Es hat klebrige Schmiere um die Augen, es müsste dringend gewaschen werden. Der Bauer hat bestimmt keine Zeit dafür. Vorsichtig greift er nach dem Tier. Es lässt sich ganz einfach in die Hand nehmen, ist noch viel leichter, als er gedacht hat. Und ganz warm. Er pult mit dem Finger an der Schmiere um die Augen, doch sie klebt fest. Da hilft nur Wasser. Behutsam trägt er das kleine Tier aus der Scheune. Um die Ecke steht die Regentonne. Sie ist nur halbvoll, es hat schon länger nicht geregnet. Auf der Wasseroberfläche schwimmt eine tote Fliege. Er taucht den Finger hinein, beträufelt die Augen des Kätzchens und versucht, sie zu säubern. Aber die Schmiere geht nicht weg. Er braucht mehr Wasser. Das Kätzchen muss gebadet werden. Er taucht das schreiende Bündel in die Tonne und reibt ihm über die Augen. Die kleinen Krallen bohren sich in seine Haut. Er schreit laut auf vor Schmerz, aber er lässt nicht los. Das Kätzchen mag nicht gebadet werden. Aber es muss sein, da hilft alles nichts. Er rubbelt, so fest er kann. Die Schmiere löst sich. Dann reibt er mit der Handfläche den restlichen Körper ab. Wenn er das Tier schon badet, dann auch gleich gründlich. Er reibt fester und fester. Es muss richtig sauber werden.
Das Kätzchen wehrt sich nicht mehr. Es hängt still und schlaff in seiner Hand. Er zieht es aus der Tonne. Es rührt sich immer noch nicht. Eigenartig. Ihm wird heiß. Hastig blickt er sich um. Niemand ist zu sehen. Rasch lässt er das Tier fallen. Mit offenem Maul und starren Pfoten bleibt es vor seinen Füßen liegen. Er hat nur Strümpfe an, weil er die Schnürsenkel nicht binden kann. Sie sind feucht und schmutzig. Im linken Strumpf ist ein Loch, er könnte mit dem nackten Zeh das nasse Fell berühren.
Er rennt, so schnell er kann, nach Hause. Die Tür ist noch angelehnt. Mama sieht fern beim Bügeln und bemerkt ihn nicht. Lautlos zieht er die Tür zu und schleicht hinauf in sein Zimmer. Er kriecht unter das Bett. Sein Herz pocht so wild, dass er glaubt, er muss sterben.
20
Es war zwanzig nach zehn, die anderen warteten bereits, als Lydia und Chris das Besprechungszimmer betraten. Sie hatten gemeinsam bei der Obduktion im gerichtsmedizinischen Institut zugesehen.
Lydia nahm dankbar den Becher Kaffee entgegen, den Ruth Wiechert ihr reichte, trank einen Schluck und räusperte sich. »Okay, Leute, das vorläufige Obduktionsergebnis in Kurzfassung: Die unbekannte Tote, die gestern Abend im Zoopark gefunden wurde, war zwischen fünfundzwanzig und dreißig Jahre alt, hatte mindestens eine Geburt und keine besonderen körperlichen Merkmale, bis auf eine Reihe alter Narben und schlecht verheilter Knochenbrüche. Zudem hatte sie mehrere Hämatome, und ihr rechter Zeigefinger war gebrochen. Diese Verletzungen waren etwa drei bis vier Tage alt. Todeszeitpunkt gegen elf Uhr am Donnerstagabend. Todesursache wie beim ersten Opfer ein Schädel-Hirn-Trauma. Auch ihr Magen wies blaue Verfärbungen auf,
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