Der Seele weißes Blut
»Geht wieder nach oben«, sagte sie barsch.
»Aber uns ist langweilig«, maulte Lukas. »Können wir nicht fernsehen?«
»Jetzt nicht.« Es kostete sie ungeheure Kraft, ruhig zu bleiben. »Ich komme gleich, und dann spielen wir gemeinsam etwas.«
Die beiden trotteten davon. Hannelore ging ins Wohnzimmer und schloss die Tür hinter sich. Sie stellte die Tasche auf dem Tisch ab. Unschlüssig verharrte sie. Am liebsten hätte sie sie in die Mülltonne gestopft, aber das wäre feige gewesen. Mit zitternden Fingern zog sie den Reißverschluss auf. Beinahe hätte sie vor Erleichterung geweint, als ein Paar Turnschuhe, ein T-Shirt, ein Handtuch und eine Sporthose zum Vorschein kamen. Was hatte sie denn erwartet? Den Beweis für Philipps eheliche Untreue? Irgendwelche perversen Sexspielzeuge? Sie wusste es selbst nicht. Gedankenverloren nahm sie die Sachen heraus, faltete sie zusammen und legte sie auf den Tisch.
Dann entdeckte sie, was ganz unten in der Tasche lag.
26
Chris hatte noch zwei Becher Kaffee geholt, und sie hatten schweigend dagesessen. Die letzten Worte, die Lydia gesprochen hatte, schienen von den Wänden der Kantine widerzuhallen, jedes weitere Gespräch von vorneherein unmöglich zu machen. Es war nicht die Tatsache, dass sie Salomon nicht als Partner haben wollte, die zwischen ihnen stand. Ihr war bewusst, dass sie ihre Abneigung deutlich genug gezeigt hatte, ohne dass Worte vonnöten gewesen wären. Doch dadurch, dass sie sie ausgesprochen hatte, war so etwas wie ein Damm gebrochen.
Im ersten Augenblick war sie erschrocken und auf sich selbst wütend gewesen, hätte sich am liebsten die Zunge abgebissen. Aber die augenscheinliche Gleichgültigkeit, mit der Salomon reagiert hatte, hatte ihren Missmut verstärkt. Wieder einmal war es ihr so vorgekommen, als ob nichts und niemand diesen Mann aus der Reserve zu locken vermochte. Zu viel Selbstkontrolle. Sie wusste, dass das unfair war, nicht stimmte, aber so konnte sie leichter ihre Antipathie aufrechterhalten. Seltsamerweise war das Schweigen zwischen ihnen nicht unangenehm. Im Gegenteil. Fast so, als hätte die offizielle Erklärung der gegenseitigen Abneigung sie aller Höflichkeitszwänge entbunden.
Doch jetzt war es Zeit, sich wieder den anstehenden Aufgaben zu widmen. Das Ergebnis des DNA-Tests musste inzwischen eingetroffen sein, und in einer halben Stunde stand die nächste Teambesprechung an.
Gerade als Lydia sich mit irgendeiner beiläufigen Bemerkung erheben wollte, tauchte Erik Schmiedel auf und setzte sich zu ihnen, ein triumphierendes Grinsen auf den Lippen. »Sagt noch einmal was gegen meine Krimis.«
Lydia sah zu Salomon hinüber, der genauso wenig zu begreifen schien wie sie.
»Was ist, spuck’s aus«, forderte Salomon ihn auf.
Schmiedel lehnte sich genüsslich zurück. »Siehe, ich habe eine Tochter, noch eine Jungfrau, und dieser hat eine Nebenfrau; die will ich euch herausbringen. Die könnt ihr schänden und mit ihnen tun, was euch gefällt.«
Salomon blickte ihn verständnislos an, Lydia setzte sich kerzengerade auf. »Bibel?«
Schmiedel nickte. »Buch der Richter, Kapitel neunzehn, Vers vierundzwanzig. Die Schandtat von Gibea. Abgekürzt: Ri 19,24.«
»Du bist ein Genie, Schmiedel«, sagte Salomon. »An so was Durchgeknalltes hätte ich nie gedacht.«
»Ich bin kein Genie, ich habe lediglich vorhin in der Mittagspause ein wenig gelesen. Einen Krimi aus Schweden. Für die Handlung spielen Bibelstellen eine zentrale Rolle. Und da dachte ich mir, Mensch Schmiedel, was so ein schwedischer Papier-Killer kann, das kann ein echter hier im Rheinland schon lange.«
»Wir sollten dem Autor ein Dankesschreiben schicken«, bemerkte Salomon, »für seine Unterstützung der deutschen Polizeiarbeit.«
»Nicht wenn er unseren Mann überhaupt erst auf die Idee gebracht hat«, warf Lydia ein.
»Das glaube ich kaum«, sagte Schmiedel. »In dem Roman geht es um etwas ganz anderes. Danken können wir dem Autor so oder so nicht mehr. Er ist tot. Natürliche Todesursache«, ergänzte er, als er die Gesichter seiner Kollegen sah.
»Okay«, sagte Lydia, »Spaß beiseite. Ich hatte die Idee anfangs auch, habe sie aber wieder verworfen wegen der zweiten Zeichenfolge. 1VOR71. Ein Kürzel VOR gibt es in der Bibel nicht, oder?«
»Stimmt.« Schmiedel zog einen Zettel hervor. »Aber vielleicht war es ursprünglich kein ›V‹, sondern ein ›K‹. Aus einem ›K‹ kann man leicht ein ›V‹ machen, man muss nur den unteren Schrägstrich
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