Der Seele weißes Blut
nicht gestört. Solange sich Karl dem Auto gewidmet hatte, hatte sie Ruhe vor ihm gehabt. Vor seinen ewigen Nörgeleien, seinen Launen, seiner Bevormundung. Sie hatte es nie leicht gehabt, doch seit seiner Pensionierung war jeder Tag mit ihm eine Prüfung gewesen. Ständig hatte er sie kontrolliert, sich in alles eingemischt. Nichts war ihm gut genug gewesen, nie hatte sie seinen Anforderungen genügt.
Durch den Schlaganfall war er schwach und hilfsbedürftig geworden und machte nicht weniger Arbeit, im Gegenteil, aber er hatte keine Macht mehr über sie. Anfangs war ihr der Rollentausch seltsam vorgekommen. Wenn er hilflos den gesunden Arm nach ihr ausstreckte, versuchte, ihr zu sagen, was er wollte, sich kaum verständlich machen konnte, hatte sie verzweifelt nach Spuren des Mannes gesucht, mit dem sie seit über vierzig Jahren zusammenlebte. Doch dann hatte sie angefangen, die Unabhängigkeit zu genießen. Und die Macht über ihn. Wenn sie ihm erst um halb acht das Essen brachte statt um sieben, was konnte er schon tun? Er wusste ja nicht einmal, wie spät es war. Sie konnte ihre geliebten Kreuzworträtsel lösen oder einen Roman lesen, ohne dass er sie fragte, ob sie nichts Wichtigeres zu tun habe. Die Angst, die ihr die neu gewonnene Freiheit gemacht hatte, war inzwischen fast vollständig verflogen und einer nie gekannten Lebensfreude gewichen.
Nur im Beisein ihres Sohnes rutschte sie unversehens wieder in ihre alte Rolle. Philipp war für sie Karls Stellvertreter. Ihm hatte sie genauso wenig entgegenzusetzen wie früher ihrem Mann. Dennoch musste sie es versuchen. Das Glück war so spät gekommen, dass sie nicht mehr daran geglaubt hatte. Sie würde es nicht mehr hergeben, für niemanden. Sie war frei, entschied selbst über ihr Leben. Und jetzt hatte sie beschlossen, dass der alte Wagen aus der Garage verschwinden musste. Und auch Philipp würde sie nicht davon abbringen.
Hannelore hörte ein Motorengeräusch vor der Haustür und blickte hinaus. Gerade parkte der junge Mann in der Einfahrt. Als sie ins Sonnenlicht vor die Tür trat, hörte sie hinter sich Getrappel auf der Treppe. Die Kinder hatten das Auto vermutlich auch gehört. Hoffentlich dachten sie nicht wieder, es sei ihre Mutter. Was wohl mit Ellen los war? Was war zwischen ihr und Philipp geschehen, dass sie ihre Kinder einfach so zurückließ? Das sah ihr gar nicht ähnlich.
Hannelore wusste, dass ihr Sohn aufbrausend sein konnte. Aber sie war fest davon überzeugt, dass er im Grunde seines Herzens ein guter Mensch war. Sie würde noch einmal in Ruhe mit ihm reden. Nicht am Telefon, sondern von Angesicht zu Angesicht. Warum hatte er sich bloß so aufgeregt wegen des Wagens?
Der junge Mann, der sich als Herr Schneider vorgestellt hatte, stieg aus und ging mit abschätzendem Blick um das Fahrzeug herum. »Fährt sich toll, das muss ich zugeben.«
»Das freut mich zu hören.« Sie drehte sich zu Lukas und Maja um, die im Hauseingang standen. »Bleibt bitte im Haus, Kinder. Ihr habt ja nicht einmal Schuhe an.«
Herr Schneider hatte die Motorhaube geöffnet. »Prima in Schuss«, stellte er fest.
»Mein Mann hat ihn regelmäßig warten lassen.«
Herr Schneider brummte etwas und ging weiter um den Wagen herum, öffnete die Heckklappe. Hannelore folgte ihm. »Da passt ganz schön was rein«, erklärte sie. »Der Kofferraum ist größer, als man meint.«
»Hier ist noch was drin. Ich nehme an, das möchten Sie behalten?« Herr Schneider hob eine rote Sporttasche hoch.
Hannelore blinzelte verwirrt in die Sonne. »Die kenne ich gar nicht«, murmelte sie. Sie nahm die Tasche und betrachtete sie verwundert.
»Das ist Papas Sporttasche«, rief Lukas von der Haustür her. »Die nimmt er immer mit ins Fitness-Studio.«
»Oh.« Hannelore war mit einem Mal schwindelig. Philipp war fast hysterisch geworden, als sie ihm erzählt hatte, dass jemand kam, um den Wagen Probe zu fahren. Hatte es etwas mit der Tasche zu tun? Warum hatte er sie in den Kofferraum getan? Und warum hatte er ihr nicht einfach gesagt, dass er sie dort deponiert hatte?
»Ich glaube, ich nehme das gute Stück«, sagte Herr Schneider und lächelte sie an.
»Ja – ja, gut«, murmelte sie.
»Sollen wir ins Haus gehen und den Kaufvertrag aufsetzen?«
»Ich – ja. Nein. Nein, nicht jetzt. Ich habe noch etwas zu erledigen. Bitte kommen Sie morgen wieder.«
»Aber Frau Dankert …«
»Bitte.« Sie wandte sich ab und rannte ins Haus. Lukas und Maja blickten sie erwartungsvoll an.
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