Der Seele weißes Blut
sie nicht mehr hören. Es ist keine schöne Geschichte. Er rennt zurück ins Zimmer und kriecht unter die Decke.
25
Chris zog den Stuhl unter dem Tisch hervor und setzte sich Lydia gegenüber. Es war kurz vor zwei, die Kantine hatte sich geleert, die meisten Kollegen waren an ihre Arbeitsplätze zurückgekehrt. Lydia reagierte kaum, als er sie grüßte, sie sah noch blasser und verschlossener aus als sonst. Etwas schien sie zu beschäftigen, ihr Sorgen zu bereiten. Was auch immer es war, ihm würde sie es bestimmt nicht verraten. Bescheuerte Idee, ihr von Anna zu erzählen. Er hatte gehofft, seine Offenheit würde das Eis zwischen ihnen brechen, schließlich mussten sie ja irgendwie als Partner miteinander klarkommen. Aber er hatte sich getäuscht. Sie hatte seine ausgestreckte Hand zurückgeschlagen.
»Hast du was gegessen?«, fragte er.
Lydia schüttelte den Kopf.
»Ich habe auch keinen Appetit.« Er stellte seinen Kaffeebecher ab. Ob ihr danach war oder nicht, sie mussten über den Fall sprechen. »Ich hab’s noch mal beim LKA versucht. Das Ergebnis des DNA-Tests müsste innerhalb der nächsten Stunde da sein.«
»Hallelujah.« Lydia verzog das Gesicht.
»Was machen wir, wenn es Ellen Dankert ist?«
»Uns ihren Mann noch einmal vorknöpfen.«
»Du glaubst, dass er der Täter ist?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Irgendwo müssen wir ja anfangen. Vielleicht hat Wirtz recht, und er hat die Gunst der Stunde genutzt, um seine Frau loszuwerden.«
»Er wusste definitiv nichts von den Schriftzeichen.«
Lydia schob ihren Kaffeebecher weg. »Es sei denn, er hat auch den ersten Mord begangen.«
Chris schnaubte. »Als Ablenkungsmanöver? Damit man ihn nicht für den Mörder seiner Frau hält?«
Lydia schüttelte den Kopf. »Ich weiß, das passt nicht. Zu viel Aufwand. Zu literarisch.« Sie grinste, wurde wieder ernst. »Also, womit haben wir es dann zu tun?«
Chris dachte nach. »Mit jemandem, der Frauen bestrafen will, aus welchem Grund auch immer. Mit jemandem, der sorgfältig plant. Er hatte die erste Tat perfekt vorbereitet. Die Lichtung, das Flunitrazepam, um sein Opfer gefügig zu machen, eine Wäscheleine zum Fesseln, ein Spaten für das Loch, ein Messer für die Schriftzeichen. Er muss an eine ganze Menge Dinge gedacht haben.«
»Und er hat das Opfer clever ausgewählt. Eine junge Frau ohne soziale Kontakte, die nicht sofort vermisst wird.« Lydia musterte die Tischplatte. »Aber bei Ellen Dankert war es anders.«
»Die musste er beseitigen, weil sie ihn gesehen hat«, sagte Chris. »Oder weil er glaubte, dass sie ihn gesehen hat. Deshalb hatte er nicht so viel Zeit für die Vorbereitungen. Allerdings könnte es sein, dass er den Tatort genommen hat, den er bereits für sein nächstes Opfer ins Auge gefasst hatte. Das würde erklären, warum er sie so weit transportiert hat.«
»Vielleicht hat er den Tatort aber auch ausgewählt, weil er weit genug von ihrem Haus entfernt lag und er befürchtet hat, dass ihr Mann überall in der Gegend herumfahren und nach ihr suchen würde. Denk an die Schlammspritzer an Dankerts Wagen. Wenn er nicht der Mörder ist, dann hat er den Wald nach seiner Frau durchkämmt.«
»Und warum sollte der Killer sein Opfer mitten in der Stadt umbringen?«, fragte Chris. »Das ist doch viel zu gefährlich. Wenn er einfach nur Dankert aus dem Weg gehen wollte, hätte er doch in die andere Richtung fahren können. Ins Neandertal zum Beispiel.«
»Vielleicht kennt er den Zoopark gut, wohnt ganz in der Nähe.«
Chris nickte. »Das wäre möglich. Aber es war trotzdem ungeheuer riskant.«
Lydia seufzte. »Das ist echt blöd. Serienmorde sind ohnehin schon kompliziert genug. Aber wenn der Täter dann noch gezwungen ist, von seinem Muster abzuweichen, weil irgendwas schiefgeht, haben wir fast keine Chance, etwas über ihn zu erfahren. Wir wissen weder, wen er als nächstes Opfer ausgesucht hätte, wenn ihm Ellen Dankert nicht über den Weg gelaufen wäre, noch in welchem zeitlichen Abstand er die Taten ursprünglich begehen wollte.«
»Immerhin ist er seinen Schriftzeichen treu geblieben«, gab Chris zu bedenken.
»Mit denen wir immer noch nichts anfangen können.« Lydia sah ihn an. »Glaubst du, die Taten sind sexuell motiviert? Ich meine, er hat sie schließlich nicht angerührt.«
»Er hat sie nicht vergewaltigt oder verstümmelt. Aber er hat sie ausgezogen, gefesselt und zu Tode gesteinigt.«
»Du weißt doch, was ich meine«, erwiderte sie ungeduldig. »Manchmal haben
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