Der Seelenfänger (German Edition)
umher, bis das Mädchen es nach draußen jagte. Bei ihrer Rückkehr verkündete sie, dass sie keine Verlängerung gewähren könne und wer deswegen die Prüfung nicht schaffe, solle sich bei Paddy Doyle beschweren.
Sascha hatte das sichere Gefühl, durchgefallen zu sein, wenn er auch bezweifelte, dass das Schwein schuld daran war. Das Leben in der Hester Street schien schon wieder in den gewohnten Bahnen zu verlaufen, da flatterte ein amtlicher Brief ins Haus. Darin hieß es, Sascha sei als Anwärter für die Stelle eines Inquisitors bei der New Yorker Polizei zugelassen. Er habe sich nächsten Montag Punkt acht Uhr morgens in der Dienststelle von Inquisitor Maximilian Wolf zu melden.
»Was für eine Ehre, einen Inquisitor in der Familie zu haben«, sagte Mo Lehrer zu Saschas Mutter, nachdem sie ihm den Brief wohl zum vierten Mal vorgelesen hatte. »Das ist fast so gut wie ein Doktor!«
»Ein
Masl
, eine Riesenchance«, stimmte ihm Mrs Kessler von ihrem Platz an dem wackeligen Tisch zu, der fast die halbe Küche einnahm. »Ein wahrer Segen.«
»Das ist das Großartige an Amerika, hier ist alles möglich!« Mo streckte den Kopf durch das Fenster zwischen Küche und Hinterzimmer. Ein richtiges Fenster war es selbstverständlich nicht, nur eine Öffnung in der Wand. Nachdem die Stadt eine Verordnung erlassen hatte, wonach jedes Zimmer in einer Mietskaserne auch ein Fenster haben müsse, war der Vermieter vorbeigekommen und hatte Öffnungen in die Wände schlagen lassen, die er dann zu Fenstern erklärte. Genau wie die Kesslers ihre Bleibe ja auch eine Zweizimmerwohnung nannten, obgleich sie das hintere Zimmer den Lehrers zur Untermiete überlassen mussten, um die Miete zahlen zu können.
Saschas Mutter machte gerne das Beste aus allem, und so sagte sie immer, die Lehrers gehörten ja eigentlich schon zur Familie. In gewisser Weise stimmte das sogar, schließlich war Mo Lehrer der
Schammes
, der Großvater Kesslers kleine Synagoge im Erdgeschoss eines Hauses in der Canal Street sauber hielt. Und sie lebten ja sogar noch enger zusammen als Verwandte. Das »Fenster« zwischen den beiden Räumen musste immer offen stehen, sonst bekamen die Lehrers keine frische Luft, und die brauchten sie, denn sie hatten bei sich eine Schneiderei eingerichtet. Tag und Nacht saß Mrs Lehrer an der Nähmaschine, während Mo Lehrer mit dem zwanzig Pfund schweren Bügeleisen hantierte. So wurden unter ihren Händen Berge von Tuchballen zu fertigen Kleidungsstücken für die großen Kaufhäuser in der Stadt verarbeitet. Dabei fanden sie immer noch Zeit, mit Beka und Sascha zu plaudern und ihnen so viele Süßigkeiten zuzustecken, dass ihr Vater schon meinte, die Lehrers verhätschelten sie maßlos.
»Habe ich recht, Rabbi?«, fragte Mo Saschas Großvater. Doch Großvater Kessler schnarchte selig in dem großen Bett, das den übrigen Platz in der Küche einnahm. Mo wandte sich an Saschas Vater. »Habe ich recht, Danny?«
»Sicherlich«, murmelte Mr Kessler, ohne von dem Buch aufzublicken, das er gerade las, Andrew Carbuncles viel gelesene Memoiren
Reichtum ohne Zauberei
. »So etwas gibt’s nur in Amerika.«
»Wie recht du hast!«, spottete Saschas Onkel Mordechai hinter den beklecksten Seiten seines Leib- und Magenblattes, des
Yiddish Daily Magic-Worker
. »Nur in Amerika können jüdische Jungen ganz wie christliche Buben zu Rädchen im Getriebe der anti-wiccanistischen Maschine werden!«
Onkel Mordechai hatte Russland verlassen müssen, weil er beschuldigt worden war, ein blavatskischer Okkulto-Syndikalist zu sein. Er selbst fühlte sich nicht nur ungerecht behandelt, sondern auch noch verspottet, war er doch eigentlich trotzkistischer Anarcho-Wiccanist. Zwar hatte er den Kontinent gewechselt, aber nicht seine politische Überzeugung. Er verbrachte seine Tage in New York nicht anders als in Russland, schrieb Artikel für insolvente revolutionäre Blätter, spielte Rollen im jiddischen Volkstheater und schmiedete im Café Metropol über vielen Tassen russischen Tees Pläne für die Revolution.
Mordechai sah auch wie ein Revolutionsheld aus, oder zumindest wie ein Schauspieler, der in einer Sonntagsmatinee einen Revolutionär geben könnte. Saschas Mutter fand, dass er »blendend« aussah. Er hatte lange Beine, ein aristokratisches Profil und tiefschwarze Locken, die ihm immer in die Augen fielen. Das gab ihm etwas Verwegenes, während Saschas Locken, die eigentlich ganz ähnlich waren, einfach nur unordentlich wirkten. Woran das
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