Der Seelenfänger (German Edition)
versicherte, man könne nie wissen.
Mrs Lehrers Angst vor Räubern und Dieben war verständlich angesichts der Summe, die sie mittlerweile in den Säumen ihres Mantels mit sich trug. Aber alle hatten Besseres zu tun, als auf ihr Gerede achtzugeben. Kaum hatte sich die Wohnungstür hinter Saschas Mutter geschlossen, da diskutierten sie schon wieder über seine Ausbildung.
»Höre nicht auf deinen Onkel Mordechai«, sagte Mo zu Sascha. »Inquisitor ist ein guter, ehrlicher Beruf. Aus Inquisitoren sind Bürgermeister, Senatoren, ja Präsidenten geworden!«
»Stimmt«, sagte Beka grimmig. »Und jeder weiß doch, wie ehrlich Politiker sind.«
Nun verdrehte Mr Kessler die Augen. »Glaubst du etwa, Mordechais Wicca-Genossen wären einen Deut besser, sobald sie an die Macht kämen?«
»Na, schlimmer als die Politiker jetzt könnten sie gar nicht sein.« Beka verschränkte herausfordernd die Arme. »Benjamin Franklin hat das Amt der Inquisitoren geschaffen, um die einfachen Bürger vor verbrecherischer Magie zu schützen, und was machen sie stattdessen? Sie schwärmen aus und verdonnern die arme Mrs Lassky zu Bußgeld, während J.P. Morgaunt und andere Börsenzauberer von der Wall Street auch bei Mord ungeschoren davonkommen!«
»Witwen mit Aktienspekulationen um ihre Ersparnisse zu bringen ist bestimmt nicht menschenfreundlich«, stellte Mr Kessler fest, »aber um Mord handelt es sich dabei nicht.«
»Im Übrigen«, fügte Mo hinzu, »schnappen die Inquisitoren auch reiche Männer. Sie haben Meyer Minsky verhaftet …«
»… und sechs Monate später ist er auf Bewährung freigekommen und leitet seine Firma ›Magic‹, als wäre nichts gewesen. Zudem ist er ein Gangster. Ein jüdischer Gangster. Wann hast du das letzte Mal von einem Astral, Morgaunt oder Vanderbilk gehört, der ins Gefängnis musste?«
»Na gut«, stichelte Bekas Vater. »Lauf rauf und schließ dich den Wobblies an. Ich habe gesehen, wie du dich mit dem rothaarigen Schmachthans von oben unterhalten hast. Wenn in meiner Jugend ein Junge und ein Mädchen sich mochten, dann haben sie Mittel und Wege gefunden. Aber wenn du lieber in der ganzen Stadt rumlaufen und Reden über die Rechte der Zauberarbeiter halten willst, nur zu!«
Beka wollte die Entrüstete spielen, doch sie war so rot geworden, dass Sascha sich ein Lachen verkneifen musste. Er konnte über seinen Vater nur staunen. Mr Kessler schuftete so viele Stunden am Tag, dass er eigentlich nur zum Essen und Schlafen zu Hause war. Und doch, aus Bekas Erröten zu schließen, hatte er etwas mitbekommen, was sogar den scharfen Augen ihrer Mutter entgangen war. Sascha wusste selbstverständlich, wer die Wobblies waren: die Magischen Werktätigen der Welt. Ihre provisorische Zentrale befand sich in einer billigen, zum Hof gelegenen Wohnung im obersten Stockwerk der Mietskaserne, in der auch die Kesslers wohnten. Nun, er sollte diese idealistischen Wobblies, die jeden Tag dieselbe Treppe wie die Kesslers hinauf- und hinunterstiegen, einmal unter die Lupe nehmen. Besonders die Rothaarigen.
»Ich denke gar nicht daran, etwas mit Jungen zu machen«, beteuerte Beka immer noch mit hochrotem Gesicht. »Und schon gar nicht mit – also, ich weiß gar nicht, wen du meinst!«
»Schön«, lenkte ihr Vater ein. »Dann brauche ich also nicht mit ihm zu reden.«
Beka biss sich auf die Lippe. »Und – Mama braucht gar nichts von ihm zu wissen.«
»Entschuldige, aber willst du damit sagen, dass du weißt, von wem ich spreche?«
»Ach Papa«, sagte Beka verdrießlich, »vielleicht solltest du an Saschas Stelle zu den Inquisitoren gehen.«
Unterdessen war Onkel Mordechai mit dem
Yiddish Daily Magic-Worker
durch und nahm sich den
Alphabet City Alchemist
vor. Die Schlagzeile »Die Räuberbarone stehlen unsere Magie« prangte darauf in so großen Lettern, dass Sascha sie vom anderen Ende des Tisches lesen konnte.
»Beka hat ganz recht mit ihrer Ansicht über die Inquisitoren«, meldete sich Mordechai, als wäre die Unterhaltung nie vom Thema Politik abgeschweift. »Dass ausgerechnet sie kriminelle Zauberer jagen sollen, ist ja wohl ein Witz. Was wiederum meine ursprüngliche These bekräftigt: Amerika ist ein Mythos, der auf einer Fabel gründet, die wiederum …«
Doch statt den Satz zu Ende zu bringen, zückte Mordechai seine Taschenuhr, las die Uhrzeit und schlug sich mit der Hand an die Stirn. »Um Gottes willen«, stieß er hervor, »ich komme ja zu spät zur Probe! Schon wieder!«
Er sprang vom Stuhl
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