Der Seelenfänger
Seelenhirte zu sein«, sagte Preacher, als sie aus dem Leihwagen ausstiegen.
»Warte nur, bis du ihn kennenlernst«, sagte Joe und nahm seine Aktentasche aus dem Fond. »Parker Willard hat diese Kirche vor dreißig Jahren gebaut. Damals hatte seine Gemeinde sechshundert Mitglieder, heute sind es noch zweihundertfünfzig, und selbst die kommen nicht regelmäßig zur Kirche.«
»Und woran liegt das?«
Joe warf ihm einen schrägen Blick zu. »Am Fernsehen, sagt Willard. Die Fernsehprediger verlangen nichts außer Geld von den Leuten. Es ist eben viel einfacher, zu Hause im Sessel vor dem Bildschirm zu sitzen und sich unterhalten zu lassen, als in der Kirche aktiv am Gottesdienst teilzunehmen. Fernsehgottesdienste sind wie ein Fertiggericht, sagt er. Es schmeckt nicht besonders, aber man hat auch keine Arbeit damit. Man stellt es bloß auf den Tisch und verspeist es.«
»Vielleicht hat er gar nicht so unrecht«, erwiderte Preacher. »Was hält er von unserem Vorschlag?«
»Er interessiert sich dafür«, sagte Joe. »Deshalb hat er uns überhaupt gebeten, ihn zu besuchen. Er hat gar keinen Hehl daraus gemacht, daß es ihm schlecht geht. Wenn seine Gemeinde nicht wieder wächst, wenn kein entscheidender Wandel eintritt, dann braucht er ein Wunder, um seine Kirche bis Neujahr noch halten zu können.«
Preacher nickte bedächtig. »Irgendwie ist das schon traurig. All diese Jahre, all diese Arbeit, und jetzt bleibt nichts übrig.« Er drückte die Klinke herunter und machte die Kirchentür auf. »Die Wege des Herrn sind unerforschlich«, sagte er. »Vielleicht sind wir das Wunder, das Willard erwartet.«
Die Kirche war im Inneren genauso kahl und verfallen wie außen. Man sah, daß die Bankreihen und die Fußbodenbretter seit Jahren schon nicht mehr gestrichen worden waren. In der großen Fensterscheibe mit dem aufgemalten Kreuz befand sich ein Sprung. Teile des Geländers neben der Kanzel waren zerbrochen und fehlten.
»Die Wohnung von Pastor Willard liegt hinter der Kirche«, erklärte Joe und klopfte an eine Tür in der Nähe der Kanzel.
Ein grauhaariger Neger öffnete ihnen. Er trug einen schwarzen Anzug, ein weißes Hemd und eine dünne schwarze Schnur als Krawatte. Er lächelte strahlend, als er die beiden Besucher erkannte. »Bruder Washington, tritt ein«, sagte er. »Ich dachte schon, Sie hätten sich bloß einen Spaß mit mir erlaubt und würden gar nicht mehr kommen.«
»Aber, Bruder Willard, wie können Sie so etwas denken«, erwiderte Joe. »Unser Flugzeug hatte fast eine Stunde Verspätung.« Er schüttelte die Hand des alten Mannes. »Darf ich Ihnen Dr. Talbot vorstellen?«
»Eigentlich habe ich das Gefühl, Sie schon lange zu kennen«, lächelte Bruder Willard. »Ich habe Sie im Fernsehen schon oft gesehen. Sie sind ein großartiger Redner. Sie könnten sogar die Rebläuse davon überzeugen, daß sie den Weinberg des Herrn nicht mehr heimsuchen sollen.«
»Vielen Dank, Bruder Willard. Nach allem, was ich höre, sind Sie selbst ein sehr fleißiger Arbeiter im Weinberg des Herrn.«
»Nun, ich gebe mir jedenfalls Mühe, Bruder Talbot. Der Herr weiß, daß es nicht immer leicht ist.« Der alte Pfarrer führte sie durch sein Zimmer zur Küche. »Er hat mir eine besonders steile Stelle zum Hacken gegeben«, sagte er lächelnd. »Vielleicht ist das der Unterschied zwischen den Baumwollfeldern und dem Weinberg des Herrn.«
»Der eine pflanzt, der andere gießt, aber das Gedeihen gibt allein Gott«, sagte Preacher. »Wir alle sind seine Gehilfen.«
Pastor Willard lächelte. »Das klingt nach dem Paulusbrief an die Korinther, Bruder Talbot.«
»Sie haben gute Ohren«, erwiderte Preacher.
Der kraushaarige Alte zeigte auf die Stühle rings um den Küchentisch. »Nehmen Sie Platz, meine Brüder. Meine Frau hat uns einen Nußkuchen gebacken, ehe sie heute morgen zur Arbeit ging. Ich mache uns rasch einen Kaffee.«
»Das ist der beste Kuchen, den ich je gegessen habe«, sagte Joe, als er eine halbe Stunde später und nach drei Stück Nußkuchen seinen Teller zurückschob. »Ab morgen werde ich Diät leben müssen.«
Pastor Willard strahlte. »Da wird sich meine Frau aber freuen, wenn sie das hört. Sie ist auf ihren Kuchen sehr stolz.«
»Da hat sie auch allen Grund«, sagte Preacher.
»Sagen Sie ihr das nur selbst«, sagte Willard. »Sie müßte eigentlich jeden Augenblick von der Arbeit zurückkommen.« Er seufzte. »Ich wüßte nicht, was ich ohne meine Frau anfangen sollte. Wenn sie nicht arbeiten
Weitere Kostenlose Bücher