Der Seelenleser
Roma hinüber und betrachtete ihr Profil vor dem regennassen Fenster, durch das mattes Licht hereinfiel. Sie bemühte sich, gegenüber dem Geschäft mit Geheimnissen stoisch zu bleiben, aber es hatte sie ihre Familie gekostet. Sie hatte einen hohen Preis dafür bezahlt, an diesem unscharfen Rand der Gesellschaft zu leben. Er wusste, dass sie über die düsteren Aussichten nachdachte, die daraus resultierten, dass sie Vectors Weg gekreuzt hatten– und wie knapp es ihnen nur gelungen war, unerkannt zu bleiben.
Für Fane war das Geheime nichts, das ihm fremd war. Er empfand weder Furcht noch Hass. Er akzeptierte seine Situation als das, was sie war: eine weitere moralische Zwickmühle, die definierte, was es bedeutete, ein Mensch zu sein. Der Mensch war von den ethischen Dilemmas seiner Geheimnisse nicht trennbar: woraus sie bestanden, wer sie für sich behielt, wer nicht… und warum.
Er konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann er aufgehört hatte, sich zu wünschen, das Leben wäre anders. Aber er wusste noch genau, wie sehr es wehtat, sich das zu wünschen. Und als er jetzt Roma betrachtete, erkannte er, dass er möglicherweise noch wehmütig diesem Schmerz nachtrauerte.
Roma wandte ihr Gesicht ab und blickte in den Regen hinaus. Fane drehte am Zündschlüssel und ließ den Wagen an.
Es war kurz nach Mitternacht, als Fane den Mercedes in Pacific Heights hinter Romas Geländewagen parkte. Der Regen legte gerade eine kurze Pause ein. Müde vom langen Sitzen stiegen beide aus und vertraten sich unter den tropfenden Birkenfeigen die Beine.
Sie waren beide erschöpft, und Diskussionen darüber, was die hektischen Ereignisse der letzten fünf Tage für ihrer beider Zukunft bedeuten würden, mussten warten. Die Zeit für Unterhaltungen würde später kommen.
» Fährst du jetzt noch zu Vera?«, fragte Roma und kramte die Autoschlüssel aus ihrer Handtasche.
» Es macht keinen Sinn, das aufzuschieben«, nickte er. » Sie muss wissen, dass Kroll tot ist, dass alles vorbei ist.«
Eine blasse Stelle auf Romas Nasenwurzel, ein fahler Keil entlang des hohen Jochbeins– Fane wusste nicht, was sie dachte. Doch Fane konnte ihren Blick spüren, der aus den dunklen Höhlen ihrer Augen auf ihn gerichtet war. Die Kommunikation war wie so vieles in den letzten Tagen unklar und für verschiedene Interpretationen offen.
Sie kam auf ihn zu und legte ihre Arme um ihn. Überrascht hielt er sie fest.
Falls es im Rückblick so wirkte, als ob sie sich ein wenig zu lange in den Armen lagen, falls er sich viel zu gut an die Wärme ihres Gesichts an seinem Hals erinnerte und auch an ihren Geruch: Er wusste nicht, ob es sich wirklich so zugetragen hatte oder ihm sein Gedächtnis einen Streich spielte.
Ohne ein Wort drehte sich Roma um, schloss ihren Geländewagen auf, stieg ein und fuhr davon. Fane blickte ihr hinterher, bis sie nicht mehr zu sehen war. In einer Minute würde er zu Vera List fahren. Es war egal, dass es schon so spät war. Er wusste, dass sie auf Neuigkeiten von ihm wartete. Doch er rührte sich nicht von der Stelle. Er atmete langsam und tief ein und aus und versuchte, an nichts zu denken. Seine Aufmerksamkeit war immer noch ganz auf die kleinen, kreisrunden Lichter im Nebel gerichtet, die sich auf der abschüssigen Straße entfernten.
Und dann begann es wieder zu regnen.
Er stieg in den Mercedes und startete den Motor. Er wendete den Wagen und fuhr zu Veras Haus in Russian Hill.
Epilog
Es war schon spät, und ich beendete gerade eine lange Unterhaltung mit Roma, die im Moment in New York war. Sie verfolgte eine Spur für einen neuen Auftrag, den wir in Betracht zogen. Nachdem wir aufgelegt hatten, lehnte ich mich auf dem Sofa zurück und griff wieder nach dem Buch von E. E. Cummings, in dem ich gelesen hatte und das vom häufigen Gebrauch schon einige Eselsohren hatte. Doch das Telefon klingelte sofort wieder.
» Marten, ist die Leitung sicher?« Es war Shen Moretti. Er wusste, dass er nichts zu befürchten hatte, aber das war seine Art, mich vorzuwarnen, dass es sich um etwas Ernstes handeln würde, damit ich entsprechend darauf reagieren konnte, falls der Augenblick für ein Gespräch schlecht war. Ich sagte ihm, er solle loslegen.
» Ich habe gerade einen Anruf von Parker bekommen«, sagte er. » Jemand von VS möchte mit dir sprechen.«
Vector Strategies hatte in meinen Gedanken schon länger keine Rolle mehr gespielt, und so wollte ich das auch. Nach dem Tod von Ryan Kroll hatte ich einen guten Monat
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