Der Seelenleser
Raum voll mit Erinnerungsstücken war, gab es keine Bilder, die Fane zusammen mit jemandem zeigten. Das war nicht seine Art. Aber es standen drei Bilder von Frauen auf der linken Seite seines Schreibtisches: seine Mutter mit ungefähr zweiundzwanzig, im Hintergrund die Caddo-Berge in Texas; eine junge Frau, die auf einem Fahrrad unter dem Bogen von Sather Gate in Berkeley hindurchfuhr; und schließlich Dana, die vor den Bougainvilleen auf ihrer Terrasse stand, aufgenommen nach sechs Monaten ihrer nur vierzehn Monate währenden Ehe.
Alle Frauen lächelten.
Alle lebten nicht mehr.
Fane ließ seinen Blick jeweils für einen Moment auf jedem der drei Bilder ruhen, aber auch nur für einen Moment. Dana war jetzt über ein Jahr tot, die anderen länger, und es schmerzte ihn zu sehr, als dass er seinen Gedanken freien Lauf gelassen hätte. Seinen Erinnerungen nachzuhängen war gefährlich, besonders so spät am Abend. Am Anfang hätte es ihn beinahe umgebracht. Jetzt hatte er immer noch einen gesunden Respekt vor nächtlichen Gedankenausflügen.
Stattdessen schaltete er das Licht aus, überprüfte mit einem kurzen Blick die Kontrollmonitore der Überwachungsanlage und brachte sein Glas durch die Diele zurück in die Küche. Er stellte es in die Spüle und schaute durch das Fenster nach unten auf die Straße.
Ohne groß darüber nachzudenken, was er tat, bewegte er sich langsam durch das stille Esszimmer mit dem schönen Ausblick über die Bucht, in dem die Echos vergangener Essenseinladungen– Gläserklirren, Gelächter– noch nachhallten. Am hinteren Ende des Raums ging er durch die Tür zur Diele und von dort aus durch die Glastüren auf die Terrasse, wo er unter der tropfenden Markise stehen blieb.
An Abenden mit klarem Himmel hatten Dana und er sich gerne warme Pullover angezogen und sich mit einer Flasche Wein und einer Schüssel Oliven auf die Terrasse gesetzt. Sie waren erst wieder hineingegangen, wenn die Gläser leer und von den Oliven nur noch die Steine übrig waren. Sie hatten über alles geredet; beide hatten sie schon so viel hinter sich und wollten die Zukunft gemeinsam entdecken. Jesus. Wie kam es, dass sie nach all dem, was sie durchgemacht hatten, immer noch so naiv gewesen waren?
Er drehte sich schnell um und kehrte zurück ins Innere. Er betrat das Wohnzimmer und überlegte, ob er noch ein wenig Zeit mit den Fotobänden verbringen sollte, aber er hatte die Lampen schon ausgeschaltet, und der Gedanke daran, sie wieder anzumachen, war weniger reizvoll als die Dunkelheit. Ein weicher Lichtschein auf dem Boden kam aus dem gewölbten Durchgang auf der anderen Seite des Raums wie ein ausgestreckter Finger. Er folgte seinem Locken, trat durch den Durchgang und ging an seinem Arbeitszimmer vorbei zu seinem Schlafzimmer, die beide ebenfalls auf die Terrasse mündeten.
Nachdem er sich ausgezogen hatte, lag er wach im Dunkeln und betrachtete die netzartigen Muster an der Decke. Er wünschte sich, dass er Roma nicht schon vorhin angerufen hätte. Sie hätten auch jetzt miteinander reden können, und er hätte die Unterhaltung in die Länge ziehen können, um einen Teil der Nacht zu überbrücken. Selbst wenn sie bemerken würde, dass er absichtlich länger mit ihr telefonierte als notwendig, hätte sie nichts dagegen gehabt. Sie hätte es verstanden.
Er dachte wieder an Vera List. Diese seltsame Situation, in der sie sich wiederfand, musste ihre Welt bis in die Grundfesten erschüttert haben. Doch trotz der Tatsache, dass sie sich offensichtlich dafür entschieden hatte, ihren rätselhaften Schwierigkeiten mit Entschlossenheit zu begegnen, hatte Fane in ihrer Stimme Fassungslosigkeit mitschwingen hören. Ihr war bewusst, dass sie gänzlich die Kontrolle verloren hatte über das ohnehin schon bescheidene Maß, in dem jeder beeinflussen konnte, was ihm auf dieser Welt widerfuhr. Ihr Leben hatte sich für immer verändert. Wie es sich von nun an gestalten würde, lag zu einem großen Teil an Fane.
Er lauschte dem Regen, der auf die Terrasse fiel, bis sich die Zeit mit dem Zeitlosen vermischte und er einschlief.
Kapitel 6
» Du musst einmal eine Frau gewesen sein«, sagte sie.
» Nein, war ich nie.«
» Woher weißt du es dann?«
» Glaub mir einfach, dass ich es weiß, Elise.«
Der Raum aus Glas ragte in die nächtliche Luft der Hügel rund um Sausalito. Auf der anderen Seite der Bucht zerstachen die Lichter von San Francisco den dicken Nebel.
Sie war immer noch ein wenig durch den Wind und auch
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