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Der Seelenleser

Der Seelenleser

Titel: Der Seelenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harper Paul
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Gedanken vorherahnst, falls du es willst.«
    Er hörte weiter zu.
    » Dass du mir die Worte aus dem Mund nimmst, falls du es willst.«
    Er wartete weiter ab.
    » Bleib um Himmels willen aus meinem Kopf heraus«, sagte sie. » Lass mir einen Ort, wo ich mich verstecken kann, wenn ich muss.«
    Er saß im Wohnzimmer des Hauses in Sea Cliff, hatte seinen Computer auf dem Schoß und einen Text der Psychoanalytikerin auf dem überbreiten Bildschirm vor sich. Aber sein Blick driftete ab, hinüber zu der Glaswand und den Lichtern der Golden Gate Bridge, die langsam von dem geisterhaften grauen Atem der Bucht geschluckt wurden.
    Er schaute auf seine Uhr. Es war Viertel nach drei am Morgen. Sein Blick kehrte zum Bildschirm zurück und zu einem seiner Lieblingsauszüge aus Vera Lists Notizen. Der Abschnitt war vor über einem Jahr verfasst worden, aber es war das Schlüsselereignis für Elise Currins Analyse.
    Erschütternd. Das ist das einzige Wort, das mir zu dieser Geschichte einfällt, die zwangsläufig sehr beunruhigend ist.
    Elise saß auf dem Sofa und war psychisch verwundet– von den Erinnerungen und den Worten aus ihrem eigenen Mund und ihrem Verstand. Es war schmerzhaft, ihr in die Augen zu sehen, die vom Weinen rot und geschwollen waren. Sie hatte ein Papiertaschentuch zu einem festen Ball zusammengeknüllt, geknetet und gequetscht, bis er nicht mehr größer als eine Weintraube war.
    Sie war neun Jahre alt, als sie die grüne Glastaube zum ersten Mal erblickte. Sie saß auf einem Regal voller Plunder in einer Bude auf einem herumziehenden Jahrmarkt, der in den staubigen Vororten von Barstow Halt gemacht hatte. Man konnte sie bei einem Glücksspiel gewinnen, aber es bestand keine Chance, dass das Tier jemals ihr gehören würde.
    Sie fragte den Mann in der Bude, ob sie die Taube einmal halten könne. Der Mann spürte anscheinend, dass er sie als Kundenköder verwenden konnte, hob sie auf den Tresen und gab ihr den Vogel. Versucht euer Glück, rief er den Vorbeigehenden zu, gewinnt die Taube für die junge Dame.
    Die Taube war prächtig, sie war mit Bläschen und Wirbeln aus smaragdgrünem Licht gefüllt, das Elise hypnotisierte und sie in Welten transportierte, in denen sie noch niemals war, die sie sich noch nie vorgestellt hatte. Sie sah dort etwas, das ihr zum ersten Mal in ihrem Leben ein Wohlgefühl vermittelte. Sie wusste nicht, dass dieses Gefühl Hoffnung genannt wurde, aber sie wusste, dass sie nicht mehr ohne es leben konnte.
    Aber die Jahrmarktbesucher kamen und gingen und vermochten es nicht, die Taube zu gewinnen, und als der Jahrmarkt am Abend schloss, nahm ihr der Mann in der Bude die Taube wieder ab und schickte sie nach Hause. Am nächsten Abend hatte der Mann in der Bude sie bereits wieder vergessen, und sie schlich sich unter den Vorhängen hindurch und stahl den Vogel.
    Sie versteckte ihn vor ihrer Mutter und ihrem Vater. Er reiste mit ihr, als die Familie im staubigen Tal von San Joaquin nach Arbeit suchte, und wenn es ihr gelang, ein wenig Zeit für sich selbst zu stehlen, so wie sie die Taube gestohlen hatte, holte sie den Vogel aus seinem Versteck und hielt ihn ins Licht,… um davonzufliegen und zu entfliehen.
    Die Taube wurde ein heiliger Gegenstand für sie, obwohl Elise den Begriff der Heiligkeit nicht kannte. Die Gnade dieses Konzepts war für sie nicht erkennbar, doch wenn sie in die grünen Flüsse in der Taube blickte, war sie glücklich.
    Als jene Nacht kam, war ihre Mutter mit einem zahlenden Kunden verschwunden. Ihr Vater erwischte Elise unter der Bettdecke, wie sie mit einer Taschenlampe in die Taube schaute. Unerklärlicherweise explodierte er. Er war irrsinnig und erschreckend wütend. Sie war es schon gewohnt, dass er nachts zu ihr kam, aber auf seinen Ausbruch war sie nicht vorbereitet gewesen.
    Mit schockierender Grausamkeit verhöhnte er sie und die Taube. Er drohte, den Vogel als Phallus zu verwenden, er spielte mit ihr Spielchen, bevor er sie vergewaltigte. Und dann nahm er ihr den Vogel weg. In den nächsten Wochen brachte er das Spielzeug jede Nacht mit, derselbe grausame Spott, das gleiche beschämende Ende, bis er den Vogel für sie in etwas verwandelt hatte, das zu hässlich war, um ertragen werden zu können.
    Und dann kam er eines Nachts im Vollrausch zu ihr, und als er umkippte, schnappte sie sich die Taube und zerschmetterte sie.
    Es war das zweite Mal, dass sie ihre Unschuld verlor, diesmal für immer.
    Die Seele einer Frau zu öffnen war, wie eine scharfe Klinge

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