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Der Seelenleser

Der Seelenleser

Titel: Der Seelenleser Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harper Paul
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etwas entnervt von dem, was gerade geschehen war. Sie versuchte, es zu unterdrücken, obwohl sie nicht wusste, warum eigentlich. Vielleicht war es an der Zeit, ihr Aufgewühltsein nicht mehr zu verbergen, bezüglich dessen, wie die Dinge zwischen ihnen liefen. Aber irgendwie hatte sie das Gefühl, dass er dies schon wusste.
    » Meine Analytikerin hat mir einen Artikel über diesen Mann aus der griechischen Mythologie gegeben«, sagte sie. Sie stand dicht an der Glaswand und blickte hinaus. Er saß auf dem Sofa hinter ihr.
    » Teiresias. Durch ein zufälliges Ereignis wurde er in eine Frau verwandelt. Sieben Jahre später wurde sie in einen Mann zurückverwandelt. Als Hera und Zeus nun einen Streit darüber hatten, wer mehr Lust in der geschlechtlichen Liebe empfinde, vertrat Zeus die Position, dass dies die Frauen seien, Hera setzte auf die Männer. Sie fragte Teiresias. Und dieser berichtete den Göttern, dass es die Frauen seien– sie würden neunmal mehr Lust empfinden als Männer.«
    Er blieb still. In der Spiegelung in der Glaswand sah sie, wie er sein Weinglas zum Mund führte und trank.
    » Weil sich Teiresias auf Zeus’ Seite gestellt hat«, fasste sie zusammen, » ließ Hera ihn erblinden.«
    » Nette Geschichte«, sagte er. » Die Schlussfolgerung daraus wäre wohl, dass ich in einem früheren Leben einmal eine Frau gewesen sein muss, weil ich verstehe, wie dein Verstand funktioniert.«
    » Nein, eigentlich wollte ich darauf hinaus, dass es gefährlich ist, zu viel darüber zu wissen, was eine Frau denkt.«
    Sie hatten sich angezogen und tranken den letzten Wein, bevor sie wieder zurück in die Stadt fahren würden.
    » Es ist gefährlich?«, fragte er. » Gefährlich?«
    Sie wartete ab, spürte in sich hinein.
    » Du meinst das ein wenig ernst, oder?«, sagte er. » Was ist los? Zu intensiv?«
    Die Frage sollte wohl einen Unterton von leichter Prahlerei haben, aber sie hörte auch eine Spur Zweifel heraus, zumindest glaubte sie das. Obwohl sie noch durcheinander war, von dem, was sie gerade mit ihm erlebt hatte, gelang es ihr, die Nerven so weit zu beruhigen, um das aussprechen zu können, was ihr am Herzen lag.
    » Sei mir nicht zu weit voraus«, sagte sie und ärgerte sich über das leichte Zittern in ihrer Stimme. » Dring nicht zu tief in mich ein.«
    Sie wusste, dass er ihre Wortwahl verstehen würde. Sie vermischte ihre Metaphern nicht, und sie hatte nicht den Sex gemeint.
    In der Spiegelung sah sie, wie er vom Sofa aufstand und durch den Raum hinter ihr auf sie zukam. Selbst in seinem rauchigen Spiegelbild war er attraktiv; sie konnte die von der Sommersonne gebleichten Strähnen seines Haares erkennen, als er durch einen weichen Lichtstrahl trat. Er stellte sich neben sie an die Glaswand: Zwei Körper schwebend in der Dunkelheit. Beide blickten über die Bucht hinweg, und sie konnte spüren, wie er versuchte, sich wieder in ihr einzunisten, wieder das psychologische Band zu festigen, das sie bei ihm hielt, das Band, das begonnen hatte, ihr Angst zu machen.
    » Hör zu«, sagte er. » Wie willst du, dass ich sein soll? Wie soll ich… mich mäßigen?« Er hatte sein seelisches Gleichgewicht wiedererlangt, und die Tatsache, dass dies bei ihm so schnell gegangen war, nervte sie nur noch mehr. » Ich verstehe wirklich nicht«, sagte er, » warum unsere… geteilte… Gedankenwelt dir so wenig behagt.«
    Sie drehte sich zu ihm um, und er wandte sich ebenfalls ihr zu. Sie hielten immer noch ihre Weingläser in der Hand, als wären sie Spiegelbilder voneinander. Und das Glasfenster neben ihm reflektierte ihn ebenfalls, noch ein Spiegelbild. Es war makaber. Sie konnte auch ihr eigenes Spiegelbild in der Glaswand neben sich spüren, auch wenn sie in eine andere Richtung schaute. Zu viert standen sie dort und hatten die gleichen Gedanken.
    Sie musste darüber nachdenken, wie sie es sagen wollte. Um sich einen Moment zusätzlicher Zeit zu erkaufen, hob sie ihr Glas, um den Wein auszutrinken. Er tat es ihr nach, vielleicht aus Reflex, so wie Gähnen andere ansteckt, und sie tranken ihren Wein gemeinsam aus. Sie wollte laut losschreien.
    » Es geht nicht darum, was wir teilen«, sagte sie und spürte, wie ihr Herz wild flatterte. » Es geht um das, was du mir stiehlst.«
    Sie sah seine Überraschung. Seltsamer Trost, dass er von dem überrascht war, was sie gesagt hatte.
    » Was ich stehl e ?«
    » Dass du meine Gedanken liest, falls du es willst«, sagte sie.
    Er hob an zu sprechen, brach aber ab.
    » Meine

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