Der Seelensammler
reden müssen, und sie ahnte schon, dass es Streit
geben würde.
Während der Woche, in der sie auf die Untersuchungsergebnisse warten
mussten, setzte David sein unerträgliches Verhalten fort. Sandra überlegte
schon, die Auseinandersetzung vorzuziehen und das Thema direkt anzusprechen, befürchtete
aber, sich nicht beherrschen zu können. In der Nacht vor der Ergebnisverkündung
war sie aufgewacht und hatte im Bett die Hand nach David ausgestreckt. Doch er
hatte nicht neben ihr gelegen. Also war sie aufgestanden und hatte
festgestellt, dass in der ganzen Wohnung kein Licht brannte. Sie fragte sich,
wo er steckte, und entdeckte ihn schließlich in der Küche. Er hatte ihr den
Rücken zugekehrt, schaukelte vor und zurück und murmelte etwas Unverständliches.
Er bemerkte sie nicht, denn sonst hätte er sofort aufgehört zu beten. Sie war
wieder ins Bett zurückgekehrt und hatte geweint.
Zum Glück war der Knoten gutartig gewesen. Aber Sandra hatte
trotzdem vorgehabt, die Sache mit David zu besprechen. Schließlich würde es
bestimmt noch andere schwierige Momente in ihrer Ehe geben, in denen man mit
Ironie allein nicht weiterkam. Sie erzählte ihm, dass sie ihn beim Beten
gesehen hatte. Und David gestand ihr beschämt, dass er eine Riesenangst hatte,
sie zu verlieren. Er selbst hatte keine Angst davor zu sterben. In seinem Beruf
begab er sich regelmäßig in Lebensgefahr, sodass er den Gedanken daran gar
nicht erst zulassen durfte. Aber als es um Sandra gegangen war, hatte er weder
ein noch aus gewusst. Und bei jenem Gott Zuflucht gesucht, dem er sonst immer
aus dem Weg ging.
»Wenn es keine Instanz mehr gibt, an die man sich wenden kann,
bleibt am Ende nur noch der Glaube an einen Gott, dessen Existenz man
eigentlich leugnet.«
Sandra hatte das als uneingeschränkte Liebeserklärung empfunden.
Aber jetzt, neben dem noch nicht fertig gepackten Koffer auf ihrem
Hotelzimmerbett, fragte sie sich, warum ihr Mann – wenn er denn glaubte, in Rom
sterben zu müssen – ihr zum Abschied ausgerechnet Ermittlungshinweise
hinterlassen hatte. Fotos, um genauer zu sein, die berufsbedingt ihre
gemeinsame Sprache waren. Warum hatte er nicht beispielsweise ein
Abschiedsvideo für sie gedreht, um ihr zu sagen, wie wichtig sie ihm war? Er
hatte ihr weder einen Brief noch einen Zettel hinterlassen, gar nichts. Wenn er
sie denn so sehr liebte, warum hatte sein letzter Gedanke dann nicht ihr
gegolten?
»Weil David nicht wollte, dass ich mich an ihn gebunden fühle, wenn
er stirbt«, sagte sie laut. Das war eine ganz neue Erkenntnis.
Er hat mir den Rest meines Lebens geschenkt: die Möglichkeit, mich
neu zu verlieben, eine Familie zu gründen, anstatt ein Witwendasein zu führen.
Und das nicht erst in einigen Jahren, sondern sofort.
Sie musste einen Weg finden, sich von ihm zu verabschieden. Zu Hause
in Mailand würde sie sämtliche Erinnerungen an ihn wegräumen, seine Kleider aus
dem Schrank nehmen und seinen Duft aus der Wohnung vertreiben – den Geruch nach
Aniszigaretten und billigem Rasierwasser.
Im Grunde konnte sie gleich damit anfangen, und zwar mit Davids
letzter Nachricht auf ihrer Handy-Mailbox, die sie nach Rom geführt hatte. Doch
vorher wollte sie sie noch ein letztes Mal anhören. Anschließend würde sie die
Stimme ihres Mannes aus ihrem Leben verbannen.
»Ciao, ich habe mehrfach versucht, dich zu erreichen, aber es meldet
sich immer nur die Voicemail. Ich habe nicht viel Zeit, deshalb zähle ich
sofort auf, was mir fehlt … Mir fehlen deine kalten Füße, die unter der Decke
nach mir tasten, wenn du ins Bett kommst. Mir fehlt, dass du mich Sachen aus
dem Kühlschrank probieren lässt, um zu wissen, ob sie noch gut sind. Dass du
mich um drei Uhr morgens schreiend weckst, weil du Wadenkrämpfe hast. Ja, mir
fehlt sogar, dass du meine Rasierklinge für deine Beine benutzt, ohne mir etwas
davon zu sagen … Wie dem auch sei, hier in Oslo ist es schweinekalt, und ich
kann es kaum erwarten, wieder nach Hause zu kommen. Ich liebe dich, Ginger!«
Ohne zu zögern, drückte Sandra auf »Löschen«. »Du wirst mir fehlen,
mein Schatz.« Tränen liefen ihr übers Gesicht. Zum ersten Mal seit Langem
nannte sie ihn nicht »Fred«.
Dann rief sie die abfotografierten Leica-Aufnahmen auf. Sie wollte
sie gerade löschen, als sie innehielt.
David hatte keinerlei Aufnahmen von der Kapelle des heiligen Raimund
von Peñafort gemacht. Dabei war der Dominikanermönch Pönitenziar gewesen.
Schalber hatte sie in die Basilika
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