Der Seelensammler
er
eine Weile, sie zurückzuschieben.
Als es ihm gelungen war, stand er vor einer dunklen Öffnung. Der
Gestank zwang ihn, zurückzutreten. Er hielt sich eine Hand vor Mund und Nase,
griff erneut nach der Taschenlampe und richtete sie auf das Loch.
Es maß nur ein paar Quadratmeter, der ganze Raum war höchstens
anderthalb Meter hoch.
Von innen war alles mit einem weichen, dunklen Material
ausgepolstert, mit einer Art Dämmschicht. Es gab eine schwache, von einem
Metallgitter geschützte Glühbirne. In einer Ecke standen zwei Schüsseln. Die
Wände waren von Kratzern übersät, so als wäre hier ein Tier eingesperrt gewesen.
Der Lichtkegel der Taschenlampe ließ etwas am Ende der Zelle
aufglänzen. Der Jäger beugte sich vor, nahm den kleinen Gegenstand an sich und
betrachtete ihn.
Ein blaues Plastikarmband.
Nein, hier war kein Tier eingesperrt!, dachte er entsetzt.
In kyrillischen Buchstaben waren folgende Worte eingraviert:
»STAATLICHES KRANKENHAUS,
KIEW. SÄUGLINGSSTATION.«
Der Jäger richtete sich wieder auf. Er musste dringend
hier raus. Von Würgereizen geschüttelt, stürzte er in den Flur. Im Dunkeln
lehnte er sich an eine der Wände und befürchtete schon, ohnmächtig zu werden.
Er versuchte, sich zu beruhigen, und bekam schließlich wieder Luft.
Währenddessen dämmerte ihm etwas: Was ihn so anwiderte, war, dass es für all
das eine ganz logische Erklärung gab. Und trotz seines Widerwillens konnte er
sie nachvollziehen.
Anatolij Petrow war kein Wissenschaftler. Er war ein kranker Sadist,
ein Psychopath. Er war regelrecht besessen von seinen Experimenten – wie ein
Kind, das einen Stein nimmt und eine Eidechse damit erschlägt. Denn in Wahrheit
ist das nicht nur ein Spiel: Eine seltsame Neugier zwingt es dazu, zu töten.
Ohne es richtig zu begreifen, erlebt es zum ersten Mal die Freuden der
Grausamkeit. Dem Kind ist bewusst, dass es ein unbedeutendes Lebewesen getötet
hat und dass es deswegen niemand bestrafen wird. Aber Anatolij Petrow war der
Kaninchen bald überdrüssig geworden.
Deshalb hatte er ein Neugeborenes entführt.
Er hatte es in Gefangenschaft aufgezogen, es als Versuchskaninchen
benutzt. Jahrelang hatte er alle möglichen Versuche damit angestellt, um es zu
konditionieren. Er hatte einen Mörderinstinkt in ihm geweckt. Wird man gut oder
böse geboren oder erst dazu gemacht? Das war die Frage, die er beantworten
wollte.
Das also war der Verwandlungskünstler: das
Ergebnis eines Experiments.
Nach der Explosion des Kernkraftreaktors hatte Anatolij die Stadt
überstürzt verlassen. Er war Turbinentechniker, wusste, wie ernst die Lage war.
Aber das Kind konnte er nicht mitnehmen.
Vielleicht wollte er es töten, dachte der Jäger. Doch dann hatte er
es sich anders überlegt. Endlich konnte er sein Geschöpf auf die Welt
loslassen. Wenn es überlebte, wäre das für ihn ein Riesenerfolg.
Also hatte er beschlossen, sein Versuchskaninchen freizulassen, ein
mittlerweile achtjähriges Kind. Der Kleine war durch die Wohnung gestreunt und
hatte dann Zuflucht bei den nichts ahnenden Nachbarn gesucht. Denn um eines
hatte sich Anatolij Petrow nicht gekümmert: Er hatte vergessen, ihm eine
Identität zu verleihen. Die Mission des Verwandlungskünstlers, herauszufinden,
wer er wirklich war, hatte mit Dima begonnen und war immer noch nicht abgeschlossen.
Den Jäger beschlich ein beklemmendes Gefühl. Seine Beute war jedes
Mitgefühls beraubt worden. Man hatte die grundlegendsten menschlichen Gefühle
in ihr abgetötet. Ihre Auffassungsgabe war außergewöhnlich. Aber letztlich war
sie nur ein unbeschriebenes Blatt, eine leere Hülle, ein blinder Spiegel. Sie
ließ sich ausschließlich von ihrem Instinkt leiten.
Das Gefängnis hinter dem Bücherregal – das nie entdeckt worden war,
obwohl es sich in einem Gebäude voller baugleicher Wohnungen, voller Menschen
befand – war ihr erster Schlupfwinkel gewesen.
Während er darüber nachdachte, sah der Jäger zu Boden. Seine Augen
hatten sich an das Halbdunkel im Flur gewöhnt, und jetzt sah er auch die
dunklen Flecken neben der Haustür.
Auch hier gab es also Blutflecken auf dem Boden, winzige Tröpfchen.
Der Jäger beugte sich vor, um sie zu berühren, so wie im Waisenhaus in Kiew
oder in Paris.
Aber diesmal war das Blut frisch.
HEUTE
Sandra war im Hotel und packte ihren Koffer fertig, weil
sie am Vortag nicht mehr dazugekommen war. Dabei dachte sie erneut an ihre
Nacht mit dem Mann zurück, von dem sie geglaubt hatte, dass er
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