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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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handelte sich um ein Tagebuch.
    14. Februar
    Ich will das Experiment Nummer 68
wiederholen, allerdings mit einer kleinen Abweichung. Ich möchte beweisen, dass
sich Umweltkonditionierung auf das Verhalten auswirkt und die Prägung umkehrt.
Zu diesem Zweck habe ich heute auf dem Markt zwei weiße Kaninchen gekauft …
    Der Jäger sah abrupt zu dem Stoffkaninchen hinüber. Was
für ein merkwürdiger Zufall! Und Zufälle waren ihm schon immer verdächtig
erschienen.
    22. Februar
    Die beiden Exemplare wurden getrennt
voneinander aufgezogen und haben jetzt die nötige Reife. Heute werde ich versuchen,
die Angewohnheiten eines der beiden zu verändern …
    Der Jäger betrachtete die leeren Glaskästen. Darin hatte
Anatolij Petrow seine Versuchstiere gehalten, das Wohnzimmer war eine Art
Versuchslabor.
    5. März
    Nahrungsentzug und Elektroschocks haben
eines der Kaninchen aggressiver gemacht. Sein friedliches Wesen entwickelt sich
Schritt für Schritt zurück zum Urinstinkt …
    Der Jäger verstand nicht. Was wollte Anatolij beweisen? Warum
verwandte er solche Mühe darauf?
    12. März
    Ich habe beide Exemplare in einem
Kasten zusammengebracht. Der Hunger und die induzierte Aggressivität haben
Früchte getragen. Eines hat das andere angegriffen und tödlich verletzt …
    Entsetzt erhob sich der Jäger von seinem Lager und holte
weitere Hefte aus dem Regal. In einigen befanden sich Fotos mit detaillierten
Erläuterungen. Die Versuchstiere wurden gezwungen, ein völlig wesensfremdes
Verhalten anzunehmen. Und zwar, indem man ihnen über einen längeren Zeitraum
hinweg Nahrung und Wasser entzog, sie bei Dunkelheit oder grellem Licht hielt,
sie mit elektrischen Stromstößen traktierte oder ihnen Medikamente
verabreichte, die psychotische Störungen hervorriefen. In ihren Augen stand
eine Mischung aus Angst und Wahnsinn. Jedes Experiment endete auf grausame
Weise, nämlich damit, dass ein Exemplar das andere tötete oder Anatolij beide
beseitigte.
    Der Jäger sah, dass das letzte Heft – die Nummer neun – auf weitere
Aufzeichnungen verwies, die jedoch in dem Bücherregal fehlten. Wahrscheinlich
hatte Anatolij Petrow die entsprechenden Hefte mitgenommen und nur die zurückgelassen,
die er für weniger wertvoll hielt.
    Eine Anmerkung mit Bleistift auf der letzten Seite ließ ihn
zusammenzucken.
    …  Alle Lebewesen töten. Nur der Mensch
tut es über das notwendige Maß hinaus – aus purem
Sadismus, aus Lust, anderen Leid zuzufügen. Güte oder Bosheit sind nicht nur
moralische Kategorien. In all den Jahren habe ich gezeigt, dass man in so gut
wie jedem Tier mörderische Aggressionen wecken und seine ursprüngliche Prägung
damit auslöschen kann. Warum sollte der Mensch da eine Ausnahme sein?  …
    Als der Jäger diese Worte las, bekam er Gänsehaut.
Plötzlich störte ihn der starre Blick des Stoffkaninchens. Er streckte die Hand
aus, um es woanders hinzusetzen, und stieß dabei aus Versehen die Feldflasche
um. Wasser ergoss sich auf den Boden. Als er die Flasche wieder aufstellen
wollte, sah er, dass ein Teil der Flüssigkeit von der unteren Leiste des
Bücherregals verschluckt wurde. Der Jäger verschüttete noch mehr Wasser, und
auch das verschwand.
    Er musterte die Regalwand, überschlug die Proportionen des Zimmers,
bis er ahnte, dass sich hinter dem Möbelstück noch etwas befand, eine Art
Hohlraum vielleicht.
    Außerdem fiel ihm ein kreisförmiger Kratzer auf dem Boden auf. Er
beugte sich vor, um ihn genauer anzusehen. Er stützte die Hände auf und blies
den Staub weg, der sich im Laufe der Jahre darin angesammelt hatte.
Anschließend richtete er sich wieder auf. Der Kratzer zeichnete einen perfekten
180-Grad-Bogen.
    Das Regal war eine Tür, und ihre häufige Benutzung hatte Spuren auf
dem Boden hinterlassen.
    Er griff nach einem der Regalbretter und zog daran, um die Tür zu
öffnen, aber sie war zu schwer. Er beschloss, Bücher herauszunehmen. Er
brauchte mehrere Minuten, um sie auf den Boden zu legen. Dann versuchte er es
noch einmal und spürte, dass das Regal Scharniere hatte. Nach einer Weile
gelang es ihm, die Regaltür zu öffnen.
    Dahinter verbarg sich eine weitere kleine Tür, die mit zwei Riegeln
versehen war.
    In ihrer Mitte befand sich ein Spion, daneben ein Lichtschalter, der
ihm ohne Strom jedoch wenig nutzte. Der Jäger versuchte trotzdem,
hineinzuspähen, allerdings ohne Erfolg. Er beschloss, sich auch hier Zutritt zu
verschaffen. Da das Metall der Riegel mit der Zeit verrostet war, brauchte

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