Der Seelensammler
Toilette.
Es gab eine Waschmaschine und eine Kammer für Besen und Putzmittel. An der
Innenseite der Badezimmertür hing ein Kalender.
Marcus machte kehrt und wandte sich anschließend nach links: Eine
Treppe führte zur Galerie hinauf. Er nahm immer drei Stufen auf einmal und
stand schließlich auf einem schmalen Treppenabsatz, von dem zwei Zimmer
abgingen.
Das erste wartete auf eine neue Bewohnerin. Darin befanden sich nur
eine unbezogene Matratze, ein Sessel und eine Kommode.
Das andere Zimmer war das von Lara.
Die Fensterläden waren offen. In einer Ecke stand ein Tisch mit
einem Computer, darüber hing ein Regal voller Bücher. Marcus trat näher und
fuhr mit dem Finger über die Rücken der Architekturbände. Dann strich er fast
zärtlich über die unvollendete technische Zeichnung einer Brücke. Er griff nach
einem der Stifte in einem Becher und schnupperte daran. Das Gleiche machte er
mit einem Radiergummi. Er konnte die heimlichen Freuden nachvollziehen, die
einem nur Schreibwaren verschaffen können.
Dieser Duft gehörte zu Laras Welt, das war der Ort, an dem sie
glücklich war. Hier lag ihr kleines Reich.
Marcus öffnete den Schrank und schob die Kleiderbügel zur Seite.
Einige davon waren leer. Im untersten Fach standen drei Paar Schuhe: zwei Paar
Turnschuhe und ein Paar Peeptoes für besondere Anlässe. Aber da war auch noch
Platz für ein viertes Paar, das fehlte.
Das Bett war 1,40 Meter breit. Zwischen den Kissen schaute ein
Plüschteddy hervor. Bestimmt hatte er Laras Leben von Anfang an begleitet, und
jetzt war er allein zurückgeblieben.
Auf der einzigen Kommode standen ein gerahmtes Foto von Lara und
ihren Eltern sowie eine Blechdose. Sie enthielt einen Ring mit einem kleinen
Saphir, ein Korallenarmband und Modeschmuck. Marcus sah sich das Foto genauer
an. Er erkannte es wieder, denn es war eines der Bilder, die Clemente ihm im
Caffè della Pace gezeigt hatte. Lara trug darauf ein Goldkettchen mit
Kreuzanhänger, das sich nun nicht in ihrer Schmuckdose befand.
Clemente hatte am Fuß der Treppe gewartet und sah, dass Marcus
wieder herunterkam. »Und?«
Marcus blieb stehen. »Gut möglich, dass sie entführt wurde.« Dabei
war er sich in dem Moment, als er den Satz aussprach, bereits sicher, dass dem
so war.
»Wie kommst du darauf?«
»Hier herrscht viel zu viel Ordnung, so als wären die fehlenden
Kleidungsstücke und das verschwundene Handy nur Teil einer Inszenierung. Aber
derjenige, der das alles arrangiert hat, hat die Kette übersehen, die vor die
Tür gelegt war.«
»Aber wie konnte er …?«
»Darauf kommen wir noch«, unterbrach ihn Marcus. Er lief durchs
Zimmer, versuchte, sich ganz genau vorzustellen, was hier passiert war. Ihm
schwirrte der Kopf, und die einzelnen Mosaiksteinchen setzten sich nach und
nach vor seinem inneren Auge zusammen. »Lara hatte Besuch.«
Clemente wusste, was in diesem Moment passierte: Marcus versetzte
sich gerade in die Situation hinein. Und genau das war seine besondere
Begabung.
Zu sehen, was der Eindringling gesehen hat.
»Er war in Laras Abwesenheit hier, hat sich auf ihr Sofa gesetzt,
ihre Matratze ausprobiert und in ihren Sachen herumgewühlt. Er hat sich die
Fotos angesehen, sich ihre Erinnerungen angeeignet. Er hat ihre Zahnbürste
berührt, an ihren Kleidern geschnuppert. Er hat aus dem Glas getrunken, das sie
in die Spüle gestellt hat.«
»Ich kann dir nicht ganz folgen …«
»Er kannte sich aus. Er wusste über Lara Bescheid, über ihren
Tagesablauf, ihre Angewohnheiten.«
»Aber hier gibt es nichts, was auf eine Entführung hinweist. Es gibt
keine Kampfspuren, niemand im Haus hat Schreie oder Hilferufe gehört. Wie
kommst du darauf?«
»Er hat sie entführt, als sie schlief.«
Clemente wollte etwas erwidern, doch Marcus kam ihm zuvor. »Hilf
mir, den Zucker zu suchen.«
Clemente gehorchte, ohne zu wissen, was Marcus vorhatte. In dem
Regal über dem Herd entdeckte er eine Dose mit der Aufschrift SUGAR. In der
Zwischenzeit sah sich Marcus die Zuckerschale auf dem Tisch näher an, die
direkt neben den Teeutensilien stand.
Beide Behälter waren leer.
Die Männer tauschten einen wissenden Blick aus, die Gefäße noch in
der Hand. Beide waren sie fast schon euphorisch, denn das war kein Zufall.
Marcus riet nicht einfach blind drauflos. Er war intuitiv auf etwas gestoßen,
das alles beweisen konnte.
»Nirgendwo lassen sich Betäubungsmittel so gut verstecken wie in
Zucker: Er überdeckt ihren Geschmack, außerdem ist so
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