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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Wahrscheinlich war der Tunnel im
achtzehnten Jahrhundert eine Art Fluchtweg gewesen. Es blieb ihm nichts anderes
übrig, als sich für eine der beiden Richtungen zu entscheiden. Er nahm die, aus
der ein dumpfes Geräusch wie von prasselndem Regen kam. Er legte an die fünfzig
Meter zurück und rutschte auf dem schlammigen Boden mehrmals aus. Ein paar Ratten
flitzten zwischen seinen Beinen hindurch und streiften ihn mit ihren warmen,
glatten Körpern, bevor sie in der schützenden Dunkelheit verschwanden. Er nahm
das Rauschen des Tibers wahr, der durch den anhaltenden Regen stark
angeschwollen war, und witterte seinen süßlichen Geruch wie ein Tier bei der
Jagd. Er folgte beidem und sah kurz darauf ein großes Gitter, durch das graues
Tageslicht hereinfiel. Hier war kein Durchkommen möglich. Also machte er kehrt
und versuchte es mit der Gegenrichtung. Er war erst wenige Meter gegangen, als
er etwas im Schlamm glitzern sah.
    Er bückte sich und hob es auf: Es war ein Goldkettchen mit
Kreuzanhänger.
    Er hatte es an Laras Hals gesehen – auf dem Foto, das die junge Frau
zusammen mit ihren Eltern zeigte. Die Kette war der Beweis, dass er mit seinen
Vermutungen ins Schwarze getroffen hatte.
    Clemente hatte sich nicht in ihm getäuscht: Genau das war seine
Begabung.
    Wie elektrisiert von seiner Entdeckung, bemerkte er seinen Freund
erst, als er neben ihm stand.
    Er zeigte ihm das Kettchen. »Schau mal …«
    Clemente nahm es ihm aus der Hand und musterte es sorgfältig.
    »Das Mädchen könnte noch leben!«, sagte Marcus, regelrecht beflügelt
von der Entdeckung. »Wir haben eine Spur, wir können herausfinden, wer der
Täter ist.« Erst da fiel ihm auf, dass der Freund seine Begeisterung nicht
teilte, sondern eher verstört wirkte.
    »Das wissen wir bereits. Ich brauchte nur einen Beweis dafür – und
leider haben wir ihn gefunden.«
    »Und der wäre?«
    »Das Betäubungsmittel im Zucker.«
    Marcus verstand nicht. »Aber was ist denn dann dein Problem?«
    Clemente musterte ihn ernst. »Ich glaube, es wird Zeit, dass du
Jeremiah Smith kennenlernst.«

8 Uhr 40
    Die erste Lektion, die Sandra Vega gelernt hatte, war,
dass Häuser niemals lügen.
    Wenn Menschen etwas von sich erzählen, konstruieren sie unter
Umständen Lügengebäude, an die sie am Ende selbst glauben. Doch der Ort, an dem
sie leben, verrät alles über sie.
    Durch ihren Beruf hatte Sandra schon viele Häuser gesehen. Immer
wenn sie eine neue Schwelle überschritt, hatte sie das Gefühl, vorher um
Erlaubnis bitten zu müssen. Aber für das, wofür sie kam, brauchte man nicht
einmal zu klingeln.
    Schon Jahre bevor sie diesen Beruf ausgeübt hatte, hatte sie auf
nächtlichen Zugfahrten immer in die erleuchteten Fenster geschaut und sich
gefragt, was wohl dahinter vorging. Welche Leben, welche Geschichten spielten
sich dahinter ab? Manchmal wurde sie unfreiwillig Zeugin davon: eine Frau, die
beim Bügeln fernsah. Ein Mann im Sessel, der Rauchringe an die Decke blies. Ein
Kind auf einem Stuhl, das in einer Kommode wühlte. Doch dann war der Zug weitergefahren,
und diese Leben hatten sich unbeobachtet fortgesetzt.
    Sie hatte sich immer ausgemalt, einen solchen Moment auszudehnen,
sich unsichtbar zwischen den Dingen zu bewegen, die diesen Menschen am nächsten
waren. Sie bei ihren banalen Alltagsverrichtungen zu beobachten, als wären sie
Fische in einem Aquarium.
    Und bei sämtlichen jemals von ihr bewohnten Häusern hatte Sandra
sich stets gefragt, was wohl vor ihr dort passiert war. Welch freudige und
welch traurige Ereignisse dort unbesehen stattgefunden hatten.
    Manchmal gingen ihr die Dramen und Horrorszenarien, die von den
Häusern gehütet wurden, wie Geheimnisse, noch lange nach. Die Häuser dagegen
vergaßen zum Glück schnell. Die Bewohner wechselten, und alles begann von vorn.
    Manchmal hinterließen diejenigen, die gingen, Spuren: einen
vergessenen Lippenstift auf der Badezimmerablage. Eine alte Zeitschrift auf
einer Konsole. Ein Paar Schuhe in einer Abstellkammer. Einen Zettel mit der
Nummer des Frauennotrufs, ganz hinten in einer Schublade.
    Anhand solch kleiner Hinweise ließ sich die Biografie eines Menschen
manchmal von hinten aufrollen.
    Nie hätte sie gedacht, dass die Suche nach solchen Details einmal
ihr Beruf sein würde. Allerdings mit einem entscheidenden Unterschied: Wenn sie
hinzugezogen wurde, hatten die Orte ihre Unschuld bereits für immer verloren.
    Sandra hatte die ganz normale Polizeilaufbahn absolviert. Sie trug
eine

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