Der Seelensammler
Kopfsteinpflaster.
Dahinter sah man mit rotem Samt bezogene Stühle, Tische mit Platten
aus grau durchzogenem Marmor, Statuen im Stil der Neurenaissance und das
übliche Publikum: Künstler, vorwiegend Maler und Musiker, die den
unvollkommenen Sonnenaufgang beklagten. Aber auch Antiquitätenhändler und
andere Ladenbesitzer, die darauf warteten, ihre Geschäfte zu öffnen, sowie der
ein oder andere Schauspieler, der nach nächtlichen Proben auf einen Cappuccino
vorbeigekommen war. Sie alle suchten nach etwas Trost an diesem scheußlichen
Morgen und waren ins Gespräch vertieft. Niemand achtete auf die beiden schwarz
gekleideten Fremden, die sich hinter ein Tischchen am Eingang zurückgezogen
hatten.
»Was machen deine Kopfschmerzen?«, fragte der Jüngere.
Der tupfte nicht länger die Zuckerkristalle um die leere Kaffeetasse
auf und fuhr sich instinktiv über die Narbe an der linken Schläfe. »Manchmal
rauben sie mir den Schlaf, aber sie sind nicht mehr ganz so schlimm.«
»Hast du immer noch diesen Traum?«
»Jede Nacht«, erwiderte der Mann und schaute auf, sodass man seine
tiefblauen, traurigen Augen sah.
»Das geht vorbei.«
»Ja, das geht vorbei.«
Die darauf folgende Stille wurde nur durch das anhaltende Zischen
der Espressomaschine unterbrochen.
»Es wird Zeit, Marcus«, sagte der Jüngere.
»Aber ich bin noch nicht so weit.«
»Wir können einfach nicht länger warten. Sie fragen nach dir. Alle
wollen wissen, wie weit du bist.«
»Ich mache doch Fortschritte, oder etwa nicht?«
»Ja, das schon: Es geht dir jeden Tag ein Stückchen besser, und das
beruhigt mich, wirklich! Aber der Erwartungsdruck ist enorm. Von dir hängt so
einiges ab.«
»Aber wer ist denn so an mir interessiert? Ich würde mich gern mal
mit diesen Leuten treffen, mit ihnen reden. Ich kenne nur dich, Clemente.«
»Das haben wir doch bereits besprochen. Es geht nicht.«
»Warum?«
»Weil es nun mal nicht geht.«
Marcus berührte erneut die Narbe – wie immer, wenn er nervös war.
Clemente beugte sich zu ihm vor, zwang ihn, ihn anzusehen.
»Es dient deiner eigenen Sicherheit.«
»Es dient ihrer Sicherheit, meinst du
wohl.«
»Das natürlich auch.«
»Ich könnte sie in Verlegenheit bringen, und das muss unbedingt
vermieden werden, stimmt’s?«
Marcus’ Sarkasmus ließ Clemente ungerührt. »Was stört dich denn so
daran?«
»Dass es mich gar nicht gibt.«
Bei diesen Worten war seine Stimme schmerzverzerrt.
»Dass nur ich weiß, wie du aussiehst, gibt dir sämtliche Freiheiten,
verstehst du das denn nicht? Die anderen kennen nur deinen Namen, ansonsten
verlassen sie sich auf mich. Du bist also in keiner Weise eingeschränkt. Da
niemand weiß, wer du bist, kann dich nichts aufhalten.«
»Warum?«, erwiderte Marcus heftig.
»Weil das, worauf wir Jagd machen, auch sie korrumpieren kann. Wenn
alles andere fehlschlägt, wenn sämtliche Sicherheitsmaßnahmen versagen, gibt es
wenigstens noch einen, der aufpasst. Du bist ihr letztes Bollwerk.«
In Marcus’ Augen blitzte Widerspruch auf. »Beantworte mir bitte eine
Frage: Gibt es noch mehr von meiner Sorte?«
Nach einer kurzen Pause sagte Clemente: »Das weiß ich nicht. Das
kann ich auch gar nicht wissen.«
»Du hättest mich im Krankenhaus lassen sollen …«
»So etwas darfst du nicht sagen, Marcus. Bitte enttäusch mich
nicht!«
Marcus sah aus dem Fenster. Der Regen hatte nachgelassen, und die
Passanten, die sich irgendwo untergestellt hatten, setzten ihren Weg fort. Er
hatte noch viele Fragen an Clemente. Zu Dingen, die ihn betrafen, zu Dingen,
die er nicht mehr wusste. Der Mann vor ihm war seine einzige Verbindung zur
Welt, besser gesagt, er war seine Welt. Marcus hatte
keinen anderen Ansprechpartner, hatte keine Freunde. Trotzdem wusste er Dinge,
die er nie hatte wissen wollen. Dinge über Menschen und über das Böse, zu dem
sie fähig sind. Dinge, die so schrecklich sind, dass sie einen jedes Vertrauen
verlieren lassen und alles vergiften. Er musterte die Umsitzenden, die wohl
keine so schwere Last trugen, und beneidete sie. Clemente hatte ihn gerettet,
doch ihn gleichzeitig dazu gezwungen, eine Schattenwelt zu betreten.
»Warum ausgerechnet ich?«, fragte Marcus und wich weiterhin seinem
Blick aus.
Clemente lächelte. »Hunde sind farbenblind.« Das sagte er jedes Mal, wenn er ihm diese Frage stellte. »Ich kann mich also
auf dich verlassen?«
Marcus wandte sich wieder seinem einzigen Freund zu. »Ja. Du kannst
dich auf mich verlassen.«
Ohne dem
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