Der Seelensammler
noch etwas hinzuzufügen, fasste Clemente in die Innentasche
des Regenmantels, der über der Stuhllehne hing. Er zog einen Briefumschlag
hervor, legte ihn auf den Tisch und schob ihn Marcus hin. Der nahm ihn mit der
ihm eigenen Konzentration entgegen und öffnete ihn.
Drei Fotos befanden sich darin.
Das erste zeigte junge Leute bei einer Strandparty. Im Vordergrund
sah man zwei Mädchen im Badeanzug, die sich am Lagerfeuer mit Bier zuprosteten.
Das zweite zeigte nur ein Mädchen. Sie hatte die Haare zusammengebunden und
trug eine Brille: Das Mädchen lächelte und zeigte hinter sich auf den Palazzo della Civiltà Italiana – ein Wahrzeichen des
italienischen Neoklassizismus. Auf dem dritten Foto umarmte dasselbe Mädchen
einen Mann und eine Frau, wahrscheinlich die Eltern.
»Wer ist das?«, fragte Marcus.
»Sie heißt Lara und ist dreiundzwanzig Jahre alt. Sie studiert hier
in Rom im achten Semester Architektur, stammt aber von außerhalb.«
»Was ist ihr zugestoßen?«
»Das weiß keiner. Sie ist seit fast einem Monat verschwunden.«
Marcus konzentrierte sich auf Laras Gesicht, wobei er das
Stimmengewirr und auch sonst alles um sich herum komplett ausblendete. Ein
typisches Mädchen aus der Provinz, das plötzlich in die Großstadt verpflanzt
wurde. Sehr hübsch, mit feinen Gesichtszügen, ungeschminkt. Marcus ahnte, dass
Lara fast immer Pferdeschwanz trug, weil sie sich keinen Friseur leisten
konnte. Wahrscheinlich ließ sie sich die Haare nur schneiden, bevor sie nach
Hause fuhr. Auch die Kleidung war ein Kompromiss: Sie trug Jeans und T-Shirt,
um nicht mit der Mode gehen zu müssen. Man sah ihr die Nächte an, die sie mit
ihren Büchern verbrachte, die Abende, an denen sie nichts außer einer Dose
Thunfisch aß – die letzte Rettung aller Studenten, wenn am Monatsende das Geld
knapp wird und der Scheck der Eltern noch auf sich warten lässt. Sie war zum ersten
Mal von zu Hause fort, hatte tagtäglich mit Heimweh zu kämpfen, das nur dadurch
erträglich wurde, dass sie ihrem Traum, Architektin zu werden, hier ein
Stückchen näher kam.
»Erzähl mir mehr.«
Clemente griff nach einem Block, schob die Tasse beiseite und
überflog seine Notizen. »Am Abend ihres Verschwindens war Lara noch mit
Freunden unterwegs. Auf sie hat sie ganz normal gewirkt: Sie haben sich so wie
immer unterhalten, bis Lara dann gegen neun müde wurde und nach Hause wollte.
Zwei ihrer Freunde – ein Pärchen – haben sie vor der Haustür abgesetzt und
gewartet, bis sie das Gebäude betreten hatte.
»Wo wohnt sie?«
»In einem Altbau im Zentrum.«
»Gibt es noch weitere Mietparteien?«
»Etwa zwanzig. Das Gebäude gehört der Universität, und Laras Wohnung
liegt im Erdgeschoss. Bis August hat sie mit einer Freundin zusammengelebt, die
dann ausgezogen ist. Sie war gerade auf der Suche nach einer neuen Mitbewohnerin.«
»Gibt es irgendwelche Spuren?«
Ȇber ihre Telefonate konnte nachgewiesen werden, dass Lara zu Hause
gewesen ist. Zwei mit ihrem Handy getätigte Anrufe sind dokumentiert: einer um
21 Uhr 27 und einer um 22 Uhr 12. Der erste dauerte zehn Minuten und galt der
Mutter, der zweite ihrer besten Freundin. Um 22 Uhr 19 wurde ihr Handy aus- und
dann nicht mehr eingeschaltet.«
Eine junge Kellnerin trat an ihren Tisch, um die Tassen abzuräumen.
Sie ließ sich bewusst Zeit damit, um ihnen die Gelegenheit zu geben, noch etwas
zu bestellen. Ohne Erfolg. Sie schwiegen, bis sie wieder ging.
»Wann wurde sie vermisst gemeldet?«, fragte Marcus.
»Gleich am nächsten Abend. Als sie am nächsten Tag nicht zur Uni
kam, haben ihre Freunde mehrfach versucht, sie zu erreichen, aber es meldete
sich immer nur der Anrufbeantworter. Gegen acht haben sie dann an ihrer Tür
geklingelt, aber niemand hat aufgemacht.«
»Und was sagt die Polizei?«
»Am Tag vor ihrem Verschwinden hat Lara vierhundert Euro abgehoben,
um die Miete zu zahlen. Aber die Universitätsverwaltung hat den Betrag nie
erhalten. Glaubt man Laras Mutter, sind Kleidungsstücke und ein Rucksack aus ihrem
Kleiderschrank verschwunden. Außerdem fehlt jede Spur von ihrem Handy. Deshalb
geht die Polizei von einem freiwilligen Verschwinden aus.«
»Wie praktisch für sie!«
»Du kennst das ja: Wenn es keinen Hinweis darauf gibt, dass man das
Schlimmste befürchten muss, wird die Suche nach einer gewissen Zeit
eingestellt. Dann wartet man einfach ab.«
So lange, bis eine Leiche auftaucht, dachte Marcus.
»Das Mädchen hatte einen geregelten Tagesablauf. Sie
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