Der Seelensammler
anstimmte. Am liebsten hätte sie
den Fernseher ausgeschaltet, aber das ging natürlich nicht.
Sie beschloss, ihn zu ignorieren, und befestigte das Aufnahmegerät,
mit dem sie die ganze Prozedur akustisch festhielt, am Gürtel. Sie strich sich
das lange kastanienbraune Haar aus dem Gesicht und band es mit einem Haargummi,
das sie stets ums Handgelenk trug, zusammen. Dann setzte sie das
Headset-Mikrofon auf, um eine Hand für ihre zweite Spiegelreflexkamera frei zu
haben. Sie stellte sie scharf. Die Kamera verschaffte ihr eine Art
Sicherheitsabstand zum Tatort.
Normalerweise wurde ein Tatort von rechts nach links und von unten
nach oben dokumentiert.
Sie warf einen Blick auf die Uhr und drückte die Aufnahmetaste. Als
Erstes sagte sie, wer sie war und wo sie war, und nannte das aktuelle Datum,
bevor sie mit der eigentlichen Arbeit begann. Sie drückte auf den Auslöser und
beschrieb gleichzeitig, was sie sah.
»Der Tisch steht in der Zimmermitte. Er ist fürs Frühstück gedeckt.
Einer der Stühle ist umgefallen, und daneben liegt die erste Leiche: Es handelt
sich um eine Frau zwischen dreißig und vierzig.«
Die Frau trug ein helles Nachthemd. Es war ihr bis zur Hüfte
hochgerutscht, sodass es auf eine fast obszöne Art Schenkel und Scham
enthüllte. Ihr Haar wurde von einer Spange in Blütenform gebändigt, und sie
hatte einen Pantoffel verloren.
»Mehrere Schusswunden. In der Hand hält sie ein Blatt Papier.«
Sie hatte gerade eine Einkaufsliste geschrieben. Der Stift lag noch
auf dem Tisch.
»Die Leiche liegt in Richtung Tür: Sie hat den Mörder kommen sehen
und noch versucht, ihn aufzuhalten. Sie ist vom Tisch aufgestanden, kam aber
höchstens einen Meter weit.«
Die Serienbilder der Spiegelreflexkamera erfassten eine neue, andere
Zeit. Sandra konzentrierte sich auf das Klicken wie ein Musiker auf sein
Metronom. Während das digitale Gedächtnis der Kamera sämtliche Details
abspeicherte, ließ sie den Tatort auf sich einwirken.
»Die zweite Leiche ist ein Junge zwischen zehn und zwölf. Er sitzt
mit dem Rücken zur Tür.«
Er hatte nichts mitbekommen. Doch dass er vom Tod überrascht worden
war, war aus Sandras Sicht allenfalls für die Überlebenden ein Trost.
»Er trägt einen blauen Schlafanzug, ist über dem Tisch
zusammengebrochen und mit dem Kopf in eine Schüssel mit Cornflakes gefallen.
Die Leiche weist eine Schusswunde im Nacken auf.«
Für Sandra zeigte sich der Tod nicht in den beiden von Kugeln
durchsiebten Körpern. Nicht in dem überall verspritzten Blut, das zu ihren
Füßen langsam trocknete. Nicht in den gebrochenen Augen, aus denen die Opfer
schauten, ohne noch etwas zu erkennen. Er zeigte sich auch nicht in den
erstarrten Bewegungen, mit denen sie von dieser Welt gegangen waren, sondern
ganz anders. Sandra hatte gelernt, dass der Tod ein Talent dafür hatte, sich in
winzigen Details zu verstecken. Und genau dort würde sie ihn mit ihrer Kamera
aufspüren: im übergekochten Kaffee auf dem Herd, der erst nach Entdeckung
dieser grausamen Tat ausgeschaltet worden war. Im Brummen des Kühlschranks, der
die Lebensmittel in seinem Bauch ungerührt weiterkühlte. Im eingeschalteten
Fernseher, der fröhliche Zeichentrickfilme zeigte. Auch nach dem Massaker war
dieses künstliche, überflüssig gewordene Leben rücksichtslos weitergegangen.
Das waren die Details, in denen der Tod sichtbar wurde.
»Keine besonders angenehme Art, den Tag zu beginnen, was?«
Sandra drehte sich um und schaltete das Aufnahmegerät aus.
Ispettore De Michelis stand mit verschränkten Armen in der Tür, eine
erloschene Zigarette zwischen den Lippen. »Der Tote, den du im Bad gesehen
hast, war Wachmann bei einer Firma für Geldtransporte. Die Pistole war
offiziell auf ihn zugelassen. Die Familie hatte nur ein Einkommen, und davon
mussten die Raten für die Wohnung und das Auto abbezahlt werden. Am Monatsende
wurde das Geld regelmäßig knapp. Aber wem geht das nicht so?«
»Warum hat er es getan?«
»Wir verhören gerade die Nachbarn. Das Ehepaar hat häufig
gestritten, aber nie so laut, dass jemand die Polizei gerufen hätte.«
»Es hat also Streit gegeben.«
»Anscheinend. Er war Thaiboxer, sogar Regionalmeister. Aber als man
Anabolika bei ihm nachgewiesen hat, hat er aufgehört.«
»Hat er sie geschlagen?«
»Das wird uns der Gerichtsmediziner sagen. Der Mann soll ziemlich
eifersüchtig gewesen sein.«
Sandra betrachtete die Frau auf dem Fußboden, die von der Taille
abwärts nackt war. Auf eine Leiche
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