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Der Seelensammler

Der Seelensammler

Titel: Der Seelensammler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Donato Carrisi
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Dienstwaffe und konnte gut damit umgehen. Aber ihre Uniform war der weiße
Schutzanzug der Spurensicherung. Nach einer Fortbildung hatte sie darum
gebeten, zu den Polizeifotografen versetzt zu werden.
    Wenn sie mit ihren Kameras zum Tatort kam, dann um die Zeit
anzuhalten. Alles gefror im Blitzlichtgewitter. War dieser Moment erst einmal
festgehalten, würde sich nichts mehr verändern.
    Die zweite Lektion, die Sandra gelernt hatte, war, dass auch Häuser
starben, genau wie Menschen.
    Ihre Aufgabe bestand darin, ihren letzten Atemzügen beizuwohnen, die
sich dann ereigneten, wenn ihre Bewohner nie mehr einen Fuß in sie hineinsetzen
würden. Zu den Vorboten ihres langsamen Verlöschens zählten ungemachte Betten,
Teller in der Spüle, ein vergessener Strumpf auf dem Fußboden. Ganz so als
wären die Bewohner überstürzt geflohen, um dem plötzlichen Weltuntergang zu
entkommen. Dabei hatte sich der Weltuntergang innerhalb dieser vier Wände
zugetragen.
    Als Sandra die Wohnung im fünften Stock eines einfachen Mietshauses
am Stadtrand von Mailand betrat, wusste sie, dass sie diesen Tatort so schnell
nicht wieder vergessen würde. Denn das Erste, was sie sah, war ein geschmückter
Baum, obwohl es bis Weihnachten noch ziemlich lange hin war. Sie wusste, warum,
denn als ihre Schwester fünf Jahre alt gewesen war, hatte auch sie den Eltern
verboten, die Weihnachtsdekoration zu entfernen. Sie hatte einen ganzen
Nachmittag lang geweint und getobt, bis die Familie endlich nachgegeben hatte.
Irgendwann, so hatte sie gehofft, würde diese Phase vorbeigehen. Doch
stattdessen war die Plastiktanne mit der Lichterkette und den bunten Kugeln bis
zum Herbst des darauffolgenden Jahres stehen geblieben. Und so sorgte nun der
Anblick des Baumes dafür, dass sich Sandras Magen sofort schmerzhaft
zusammenzog.
    In diesem Haus lebte ein Kind.
    Sie konnte seine Anwesenheit wittern. Denn die dritte Lektion, die
sie gelernt hatte, war, dass Häuser einen Geruch hatten. Er kommt von
denjenigen, die darin wohnen, und ist bei jedem Haus anders. Wechseln die
Bewohner, verschwindet auch der Geruch und weicht einem neuen. Er entsteht erst
mit der Zeit und begräbt andere Gerüche unter sich, seien sie nun chemischen
oder natürlichen Ursprungs wie die von Weichspüler und Kaffee, Schulbüchern und
Zimmerpflanzen, Putzmitteln und Kohlsuppe. Bis er zum Erkennungsduft einer
Familie wird. Die trägt ihn mit sich herum und nimmt ihn selbst nicht einmal
wahr.
    Und jetzt genügte allein dieser Duft, um diese Wohnung von der
anderer Familien mit nur einem Haushaltseinkommen zu unterscheiden. Drei
Zimmer, Küche, Bad. Die Möbel waren nach und nach angeschafft worden, nämlich immer
dann, wenn es der Geldbeutel gerade zuließ. Die gerahmten Fotos waren fast alle
in den Sommerferien aufgenommen worden, denn mehr Urlaub war nicht drin. Auf
dem Sofa vor dem Fernseher lag eine Decke: Dort hatten sie sich jeden Abend
zusammengekuschelt, bis die Müdigkeit kam.
    Sandra ließ das alles auf sich wirken. Nichts daran ließ erahnen,
was anschließend geschehen war. Niemandem wäre auch nur das Geringste
aufgefallen.
    Die Polizisten liefen wie ungebetene Gäste zwischen den Zimmern hin
und her. Schon allein ihre Anwesenheit zerstörte jede Privatsphäre. Aber Sandra
fühlte sich schon lange nicht mehr wie ein Eindringling.
    An solchen Verbrechensschauplätzen wurde so gut wie nicht
gesprochen. Auch das Entsetzen hält sich an gewisse Spielregeln. Hier war jedes
Wort überflüssig, weil jeder ganz genau wusste, was er zu tun hatte.
    Doch keine Regel ohne Ausnahme: Eine davon war Fabio Sergi, der
irgendwo in der Wohnung laut vor sich hin murmelte.
    »Scheiße, aber das kann doch nicht wahr sein!«
    Sandra brauchte nur seiner Stimme zu folgen: Sie kam aus einem
winzigen, fensterlosen Bad.
    »Was ist denn los?«, fragte sie, stellte die beiden Taschen mit
ihrer Ausrüstung im Flur ab und zog die Schuhüberzieher an.
    »Was los ist? Heute ist wirklich ein wunderbarer Tag, das ist los!«,
antwortete er zynisch, ohne sie anzusehen. Er schlug gerade unkontrolliert auf
einen mobilen Gasheizkörper ein. »Dieses verdammte Ding will einfach nicht
funktionieren!«
    »Du wirst uns doch hoffentlich nicht alle in die Luft sprengen?«
    Sergi warf ihr einen wütenden Blick zu. Sandra beließ es dabei, ihr
Kollege war einfach zu gereizt. Stattdessen senkte sie den Blick und sah die
männliche Leiche, die den gesamten Raum zwischen Tür und Toilette einnahm. Sie
lag auf dem Bauch und

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