Der Seewolf
ruhige See. Wie gewöhnlich, wenn Abwechslung zu erwarten war, erschienen die Jäger und die nicht Dienst habende Wache an Deck. Mugridge zeigte eine panische Angst vor dem Wasser und entwickelte bei seinen Fluchtversuchen ein Tempo, das wir ihm niemals zugetraut hätten.
Die Matrosen scheuchten den Koch auf dem Deck herum, während die Jäger sie anfeuerten. Auf dem Vordeck stürzte Mugridge und drei Mann fielen über ihn her. Aber er wand sich wie ein Aal heraus und sauste zur Takelage. Blut rann ihm aus dem Mund und sein Hemd hing in Fetzen. Er kletterte wie ein Äffchen zum Großmasttopp hinauf.
Ein halbes Dutzend Matrosen war ihm auf den Fersen, doch vier von ihnen blieben an den Dwarssalingen zurück. Nur Oofty-Oofty und Black, der Steuermann in Latimers Boot, schwangen sich weiter, immer höher hinter ihm her.
Das war gefährlich für sie. Mugridge trat wie ein Wilder um sich und seine Verfolger hingen nur an ihren Händen, mehr als hundert Fuß hoch, über dem Deck. Trotzdem gelang es den beiden, je einen Fuß des Kochs zu erwischen. Alle drei gerieten ins Rutschen und landeten in den Armen ihrer Gefährten auf den Dwarssalingen.
Thomas Mugridge wurde aufs Deck hinuntergeschafft. Wolf Larsen legte ihm eine Tauschlinge um den Leib. Dann wurde er ins Wasser geworfen. Vierzig, fünfzig, sechzig Fuß Leine liefen ab, bis Wolf Larsen den Befehl zum Festmachen erteilte. Oofty-Oofty legte eine Schlinge um einen Poller, die Leine straffte sich und die Ghost riss den Koch an die Wasseroberfläche.
Ein Mitleid erregendes Schauspiel! Obwohl er nicht ertrinken konnte und neun Leben zu haben schien, erlitt der Koch Höllenqualen. Jedes Mal wenn das Heck sich auf einer Welle hob, wurde auch er an die Oberfläche gezogen und konnte nach Luft schnappen. Wenn das Heck aber niedersank, wurde die Leine schlaff und er ging unter.
Ich zuckte zusammen, als Maud Brewster neben mich trat. Ich hatte sie völlig vergessen. Auf Deck wurde es schlagartig still.
»Warum sind alle so fröhlich?«, fragte sie.
»Fragen Sie Wolf Larsen«, sagte ich kühl, obwohl ich mich fürchterlich darüber aufregte, dass sie Zeugin dieser brutalen Vorgänge werden würde.
Da fiel ihr Blick auf Oofty-Oofty, der wachsam die Tauschlinge hielt. »Fischen Sie?«, fragte sie ihn.
Er antwortete nicht, beobachtete aufmerksam das Meer. Plötzlich flackerten seine Augen.
»Hai in Sicht, Sir!«, schrie er.
»Einholen, rasch, alle Mann!«, rief Wolf Larsen und war als Erster an der Leine.
Mugridge hatte den Warnruf gehört und schrie wie ein Wahnsinniger. Eine schwarze Flosse teilte das Wasser hinter ihm und näherte sich schneller, als er eingeholt wurde. Es stand fünfzig zu fünfzig, ob der Hai oder wir den Mann bekommen würden, und es ging um Sekunden.
Als Mugridge sich direkt unter uns befand, sank das Heck in ein Wellental und verschaffte dem Hai einen Vorsprung. Die Flosse verschwand, ein weißer Bauch leuchtete auf. Fast genauso schnell war Wolf Larsen, aber nur fast! Er legte seine ganze Kraft in einen gewaltigen Ruck und der Körper des Kochs schoss aus dem Wasser - der Hai hinterher!
Der Koch zog die Beine an den Körper und der Menschenfresser schien kaum einen Fuß zu berühren, bevor er zurück ins Wasser platschte, doch Thomas Mugridge brüllte wie am Spieß. Dann wurde er wie ein Fisch an der Angel aufs Deck geschleudert, wo er kopfüber hinstürzte und liegen blieb.
Blut strömte über die Planken. Der rechte Fuß fehlte, war sauber am Knöchel abgetrennt worden.
Ich sah rasch zu Miss Brewster hin. Ihr Gesicht war weiß, ihre Augen starr vor Entsetzen. Doch sie starrten nicht auf Thomas Mugridge, sondern auf Wolf Larsen. Er merkte es.
»Männerspiele, Miss Brewster, vielleicht ein bisschen wüster, als Sie es gewöhnt sind, aber trotzdem - Männerspiele. Der Hai war nicht eingeplant. Er ...«
In diesem Moment grub Thomas Mugridge seine Zähne in Wolf Larsens Bein. Er hatte das Ausmaß seiner Verwundung begriffen und war zu seinem Peiniger gekrochen. Der bückte sich unbeeindruckt und presste mit Daumen und Zeigefinger die Kinnladen des Kochs zusammen, sodass sich der Kiefer öffnete und sein Bein freigab.
»Wie ich schon sagte«, fuhr Wolf Larsen fort, als ob nicht das Geringste passiert wäre, »der Hai war nicht einkalkuliert. Er war, sagen wir - göttliche Vorsehung.«
Ich konnte nicht erkennen, ob sie seine Worte gehört hatte, aber in ihren Augen stand unaussprechlicher Abscheu. Sie wandte sich ab um zu gehen. Doch sie
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