Der Seewolf
Essen, zumindest im Moment, indem er mir hilft. Was also machen Sie?«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Füttern Sie sich selbst oder füttert Sie jemand anders?«
»Ich fürchte, jemand anders hat mich die längste Zeit meines bisherigen Lebens gefüttert.« Sie lachte. Ich spürte, dass sie tapfer versuchte, auf Wolf Larsens Ton einzugehen, aber der Schrecken in ihren Augen wuchs.
»Vermutlich macht Ihnen auch jemand anders das Bett?«
»Ich habe mein Bett selbst gemacht.«
»Oft?«
In gespielter Reue schüttelte sie den Kopf.
»Haben Sie jemals einen Dollar durch eigene Arbeit verdient?«, fragte er triumphierend, der Antwort bereits sicher.
»Ja«, meinte sie leise, »als ich ein kleines Mädchen war, gab mein Vater mir einen Dollar dafür, dass ich fünf Minuten still sein sollte.«
Er grinste verächtlich.
»Heute«, fuhr sie nach einer Pause fort, »verdiene ich etwa achtzehnhundert Dollar im Jahr.«
Alle Köpfe ruckten empor, entgeisterte Augen starrten sie an. Eine Frau, die achtzehnhundert Dollar verdiente! Wolf Larsen verbarg seine Bewunderung nicht.
»Festes Gehalt oder Akkordarbeit?«
»Akkord«, erwiderte sie prompt.
»Das sind hundertfünfzig Dollar im Monat«, stellte er fest. »Nun, Miss Brewster, hiermit stelle ich Sie zum gleichen Gehalt an, für die Zeit, die Sie an Bord der Ghost verbringen.«
Sie sagte nichts. Seine Einfälle kamen noch zu überraschend für sie.
»Was für eine Tätigkeit ist es denn, die Sie verrichten?«, erkundigte er sich. »Welches Werkzeug benötigen Sie dafür?«
»Papier und Tinte!« Sie lachte. »Ach ja, eine Schreibmaschine wäre auch nicht schlecht.«
»Sie sind Maud Brewster«, sagte ich so feierlich, als klagte ich sie eines Verbrechens an.
Sie sah mich verwundert an. »Woher wissen Sie das?«
»Es stimmt doch?«
Sie nickte.
Jetzt war Wolf Larsen an der Reihe, verwirrt zu sein. Der Name sagte ihm nichts. Ich genoss es, ihm einmal überlegen zu sein.
»Ich erinnere mich, dass ich eine Besprechung zu einem dünnen Bändchen geschrieben habe ...«
»Sie!«, rief sie. »Sie sind ...«
Ich nickte.
»Humphrey van Weyden«, sprach sie zu Ende. »Ich freue mich! Aber die Besprechung war zu schmeichelhaft.«
»Ganz und gar nicht. Außerdem stimmen alle Kritiker mit mir überein. Wurde nicht eines Ihrer Sonette unter die vier besten Dichtungen von Frauen in englischer Sprache eingestuft? Sieben Bändchen von Ihnen stehen auf meinem Regal sowie zwei dicke Bücher mit Ihren Essays. Sie sind Maud Brewster«, wiederholte ich noch einmal und betrachtete sie voller Ehrfurcht.
»Und Sie sind Humphrey van Weyden«, erwiderte sie in derselben feierlichen Tonart. »Aber ich begreife es nicht. Wollen Sie neuerdings romantische Seegeschichten verfassen?«
»Ich bin nicht hier, um Material zu sammeln, Dichtung ist nicht mein Fall.«
Wir vertieften uns in unser Gespräch und vergaßen dabei unsere Umgebung. Nachdem die Jäger den Raum verlassen hatten, redeten wir weiter. Auf einmal wurde mir bewusst, dass Wolf Larsen geblieben war. Neugierig lauschte er unserer fremdartigen Sprache und den Wörtern, die er nicht verstand.
Mitten im Satz brach ich ab. Die Gegenwart mit all ihren Gefahren und Schrecknissen hatte mich wieder eingeholt. Auch in Miss Brewsters Augen trat ein namenloser Schrecken, als sie Wolf Larsen ansah.
Er stand auf. Sein Lachen klang hart wie Metall. »Achten Sie nicht auf mich, ich zähle nicht. Machen Sie nur weiter!« Aber dazu waren wir nicht mehr in Stimmung. Wir erhoben uns ebenfalls und lachten verlegen.
Der Verdruss, den Wolf Larsen empfunden hatte, weil Miss Brewster und ich ihn während des Essens ignoriert hatten, musste natürlich irgendwie seinen Ausdruck finden. Thomas Mugridge musste dafür herhalten. Sowohl die Küche als auch sein Hemd waren genauso verdreckt wie immer. Er hatte weder seine Kleidung gewechselt noch seine Art zu kochen. Überall war Fett abgelagert.
»Ich habe dich gewarnt, Köchlein«, sagte Wolf Larsen, »jetzt musst du deine Medizin schlucken.«
Mugridges Gesicht wurde unter der Dreckschicht leichenblass. Als Wolf Larsen ein paar Männer herbeirief, die ein Tau mitbringen sollten, ergriff der elende Kerl die Flucht und flitzte kreuz und quer über das Deck, während die Mannschaft ihn johlend verfolgte. Liebend gern wollten sie ihn ein bisschen ins Schlepptau nehmen, denn der Fraß, den er in die Back schickte, war eine Zumutung.
Die Bedingungen waren günstig. Die Ghost glitt gemächlich durch eine
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