Der Seewolf
! Zu einem Zeitpunkt, da ich sie nicht erwartet hatte, und unter den widrigsten Umständen. Maud Brewster! Ich erinnerte mich an das erste dünne Büchlein auf meinem Schreibtisch und sah die Reihe von Bänden auf dem Bücherregal. Alljährlich war einer von ihnen veröffentlicht worden und jeden hatte ich herbeigesehnt! Sie vermittelte mir den Eindruck von Seelenverwandtschaft, doch jetzt gehörte ihr ein Platz in meinem Herzen.
Irgendwo hatte ich über Maud Brewster gelesen, dass sie in Cambridge geboren und siebenundzwanzig Jahre alt war. Ich wunderte mich: siebenundzwanzig Jahre und noch immer frei? Aber woher konnte ich das wissen? Schon fühlte ich einen Stich der Eifersucht. Ich liebte sie! Ich, Humphrey van Weyden, liebte Maud Brewster.
Seit jeher hatte ich die Liebe als die großartigste Sache der Welt betrachtet, als das Ziel und den Höhepunkt des Daseins, höchstes Glück und größte Freude. Doch jetzt, als es so weit war, konnte ich es kaum glauben. So viel Glück konnte mir nicht vergönnt sein!
Tief in Gedanken begann ich auf dem Deck hin und her zu laufen. Dabei murmelte ich Verse aus einem Liebesgedicht vor mich hin.
Ich war blind und taub gegenüber meiner Umgebung.
»Zum Teufel, was ist denn mit Ihnen los?«, riss mich Wolf Larsens scharfe Stimme aus meinen Träumen. Ich hatte mich einigen Matrosen genähert, die mit Malerarbeiten beschäftigt waren, und hätte beinahe einen Farbeimer umgetreten.
»Schlafwandeln, was?«, schnauzte Wolf Larsen. »Sonnenstich!«
»Nein, Verdauungsstörungen«, erwiderte ich und spazierte weiter, als ob nichts geschehen wäre.
Die Ereignisse während der nächsten vierzig Stunden, die der Entdeckung meiner Liebe zu Maud Brewster folgten, haben mein Leben beeinflusst. Niemals zuvor in meinem Dasein war innerhalb von vierzig Stunden so viel passiert! Nicht ohne Stolz kann ich von mir behaupten, dass ich mich dabei recht wacker gehalten habe, alles in allem.
Es begann damit, dass Wolf Larsen beim Mittagessen den Jägern mitteilte, sie sollten zukünftig im Zwischendeck essen. Ein starkes Stück, denn normalerweise nehmen die Jäger auf Robbenschonern einen ähnlichen Rang ein wie Offiziere. Er nannte keinen Grund, aber seine Beweggründe waren offensichtlich. Horner und Smoke hatten angefangen Miss Brewster schöne Augen zu machen, was diese mehr erheiterte als störte. Doch Wolf Larsen war es ein Dorn im Auge.
Seine Ankündigung wurde schweigend zur Kenntnis genommen, doch die übrigen vier Jäger warfen den beiden Verursachern ihrer Verbannung wütende Blicke zu. Jock Horner, ein ruhiger, zurückhaltender Geselle, ließ sich nichts anmerken, doch Smokes Gesicht lief dunkelrot an und er öffnete den Mund um zu sprechen.
Wolf Larsen beobachtete ihn lauernd, mit einem stahlgrauen Glanz in seinen Augen. Smoke machte schnell den Mund wieder zu.
»Gibt es etwas zu bemerken?«, fragte Wolf Larsen angriffslustig.
Smoke nahm die Herausforderung nicht an. »Worüber?«, fragte er ganz unschuldig.
Die anderen grinsten.
Wäre Maud Brewster nicht anwesend gewesen, so wäre vermutlich Schlimmes passiert. Ein Ruf des Rudergängers rettete die Situation. »Rauch ahoi!«, klang es die Treppe herunter.
»Welche Richtung?«, rief Wolf Larsen hinauf.
»Achtern, Sir!«
»Vielleicht ein Russe«, vermutete Latimer.
Die übrigen Jäger reagierten besorgt. Wenn es ein Russe war, konnte es sich nur um einen Kreuzer handeln. Wir befanden uns nicht weit entfernt von gesperrten Zonen und jedermann wusste, dass Wolf Larsen gern wilderte. Aller Augen richteten sich auf ihn.
»Wir sind absolut sicher«, beschwichtigte er lachend. »Ich wette, es ist die Macedonia. Dann wird es allerdings Ärger geben!«
»Ich habe noch nie erlebt, dass es keinen Ärger gab, wenn Sie und Ihr Bruder aufeinander trafen«, meinte Latimer.
Nach dem Essen gingen wir aufs Deck, denn ein Schoner war eine willkommene Abwechslung in unserem eintönigen Leben. Die Vermutung, dass es sich um Tod Larsen auf der Macedonia handelte, erhöhte die Spannung.
Die steife Brise und schwere See, die am vergangenen Nachmittag aufgekommen waren, hatten sich im Verlaufe des Vormittags weitgehend gelegt, sodass wir die Boote zu Wasser ließen. Die Jagd versprach erfolgreich zu werden. Wir trieben mitten in eine Herde hinein.
Der Rauch des anderen Schiffes war noch mehrere Meilen entfernt, näherte sich aber rasch, während wir die Boote hinunter ließen. Sie verteilten sich in Richtung Norden über das Meer.
Als wir
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