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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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schwankte, taumelte, streckte hilfesuchend ihre Hand aus. Ich fing sie auf, bevor sie fiel. Dann half ich ihr bis zu einer Treppenstufe, damit sie sich setzen konnte.
    »Holen Sie eine Aderpresse, Mr van Weyden«, sagte Wolf Larsen. Ich zögerte, doch Miss Brewster bat mich durch einen Blick, der Aufforderung zu folgen und dem Verletzten beizustehen. Inzwischen hatte ich etliche Erfahrungen in der Chirurgie erworben und kümmerte mich, unterstützt von ein paar Matrosen, um den Stumpf.
    Wolf Larsen schickte sich an, Rache an dem Hai zu üben. Ein fetter Köder aus Pökelfleisch wurde an einem Haken über Bord geworfen, und während ich noch die durchtrennten Venen und Arterien versorgte, wurde das Ungeheuer bereits an Bord gehievt. Ich selbst schaute nicht zu, aber meine Gehilfen verließen mich abwechselnd und erstatteten anschließend Bericht.
    Der sechzehn Fuß lange Hai wurde in die Haupttakelage geheißt. Dann riss man ihm die Kiefer weit auseinander und klemmte eine Eisenstange dazwischen, die an beiden Enden zugespitzt war. So konnte er seinen Rachen nicht mehr schließen. Anschließend wurde der Haken entfernt und der Hai zurück ins Meer geworfen. Er war jetzt wehrlos, obwohl seine Kraft ungebrochen war. Er war zum Hungertod verurteilt, den im Grunde sein Richter viel eher verdiente.

Mir war klar, warum sie zu mir kam. Sie hatte sich sehr ernsthaft mit dem Maschinisten unterhalten und jetzt zog ich sie aus der Hörweite dieses Mannes. Ihr Gesicht wirkte blass und entschlossen, ihre ohnehin großen Augen waren riesig. Sie sah mich fest an. Ich hatte Angst, denn sie war gekommen, um mein wahres Wesen zu erforschen, doch damit konnte ich nicht prahlen, seitdem ich mich auf der Ghost aufhielt. Wir schlenderten zum Achteraufbau, wo sie stehen blieb und mir in die Augen sah. Rasch schaute ich mich um, ob uns auch niemand belauschte.
    »Was ist?«, fragte ich freundlich, aber ihre Gesichtszüge entspannten sich nicht.
    »Ich begreife, dass diese Sache heute Morgen zum größten Teil ein Unfall war«, fing sie an. »Aber ich habe eben mit Mr Haskins gesprochen. Er sagt, an dem Tag, als wir gerettet wurden, seien zwei Männer ertrunken, mit Absicht ertränkt - ermordet.«
    Eine Frage lag in ihrer Stimme und sie sah mich anklagend an, als ob ich für diese Tat verantwortlich wäre oder zumindest teilweise. »Diese Information stimmt«, antwortete ich. »Zwei Männer wurden ermordet.«
    »Und Sie haben es zugelassen?«, schrie sie.
    »Ich konnte es nicht verhindern, das ist der bessere Ausdruck«, entgegnete ich, noch immer freundlich.
    »Aber Sie haben versucht es zu verhindern?« Sie betonte das Wort »versucht« und ihre Stimme klang flehend. »Ach nein, das haben Sie nicht!«, erriet sie meine Antwort. »Aber warum nicht, um Himmels willen?«
    Ich zuckte mit den Schultern. »Vergessen Sie nicht, Miss Brewster, dass Sie in dieser Umgebung noch neu sind und die Regeln an Bord nicht kennen. Sie vertreten edle Vorstellungen von Menschlichkeit, Männlichkeit und anständigem Verhalten, doch diese Werte gelten hier nicht.« Ich seufzte.
    Ungläubig schüttelte sie den Kopf.
    »Also, was schlagen Sie vor?«, fragte ich. »Soll ich mir ein Messer, eine Flinte oder eine Axt besorgen und diesen Mann umbringen?« Sie fuhr zurück. »Nein, bloß das nicht!«
    »Was dann? Soll ich mich selbst umbringen?«
    »Es gibt so etwas wie Zivilcourage und die ist niemals vergebens.« »Ah«, ich lächelte, »Sie raten mir demnach, mich weder selbst noch ihn zu töten, sondern mich von ihm töten zu lassen.« Als sie mich unterbrechen wollte, hob ich die Hand. »Zivilcourage bringt überhaupt nichts auf diesem Schiff. Leach, einer der Ermordeten, besaß enorm viel davon. Sein Gefährte Johnson ebenso. Aber genau das hat sie vernichtet! Sie müssen einfach begreifen, Miss Brewster, dass dieser Mann ein Ungeheuer ist. Er hat keinerlei Gewissen. Nichts ist ihm heilig und er scheut vor nichts zurück. Wir alle sind seine Sklaven, weil wir uns gegen ihn nicht zur Wehr setzen können. Er ist zu stark! Wenn wir überleben wollen, müssen wir stillhalten und schweigen. Wir müssen zusammenhalten, ohne dass es offenkundig wird. Keine Auseinandersetzungen heraufbeschwören, ihm nicht widersprechen! Es ist für uns lebensnotwendig, dass wir eine lächelnde Miene zum bösen Spiel zeigen.«
    Sie strich sich verwirrt über die Stirn. »Ich begreife das immer noch nicht ...«
    »Tun Sie, was ich gesagt habe«, forderte ich mit Nachdruck, denn ich

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