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Der Seewolf

Der Seewolf

Titel: Der Seewolf Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jack London
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bemerkte, dass Wolf Larsen uns musterte, während er mit Latimer über das Deck schritt.
    »Dann soll ich mich also verstellen? Soll lügen?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
    Wolf Larsen hatte sich von Latimer getrennt und kam auf uns zu. Ich geriet in Panik.
    »Bitte, bitte, begreifen Sie doch!«, flehte ich sie mit gesenkter Stimme an. »Sie dürfen sich auf gar keinen Fall feindselig verhalten. Seien Sie freundlich zu ihm, plaudern Sie mit ihm, diskutieren Sie mit ihm über Literatur ... Ein Leben ohne Literatur könnte ich mir niemals vorstellen«, sagte ich lauter, denn Wolf Larsen hatte uns erreicht. »Sie bildet einen wesentlichen Teil meines Daseins.«
    »Das geht mir genauso«, sagte sie schwach.
    »Aha, jetzt habe ich wohl ein schöngeistiges Gespräch unterbrochen?« Wolf Larsen lächelte spöttisch. »Sie sollten mal nach Köchlein sehen, Mr van Weyden. Er jammert und ist sehr unruhig.«
    Doch ich fand Mugridge selig schlafend in seiner Koje. Kein Wunder, nach dem Morphium, das ich ihm verabreicht hatte!
    Als ich aufs Deck zurückkehrte, traf ich Maud Brewster in angeregter Unterhaltung mit Wolf Larsen an. Ich fühlte mich ungeheuer erleichtert - und trotzdem ein kleines bisschen enttäuscht, dass sie es fertig brachte, ihrer Überzeugung zuwiderzuhandeln.

Lebhafte Winde trieben die Ghost rasch nach Norden zu den Robbengründen. Am vierundvierzigsten Breitengrad trafen wir die Herde inmitten einer stürmischen, rauen See, über die Nebelschwaden hinwegfegten. Mehrere Tage lang ließ sich die Sonne nicht blicken, doch dann blies der Wind die Oberfläche des Ozeans blank und wir wussten wieder, wo wir uns befanden.
    Einige klare Tage folgten, dann kehrte der Nebel, dicker als zuvor, zurück.
    Die Jagd war gefährlich, trotzdem wurden die Boote jeden Tag hinuntergelassen. Sie verschwanden im grauen Nichts, um erst am Abend wieder sichtbar zu werden. Wainwright, der Jäger, den Wolf Larsen samt Mannschaft und Boot gestohlen hatte, machte sich die verhangene See zunutze und entkam mit seinen beiden Gefährten. Wir sahen sie niemals wieder. Wie wir später erfuhren, kehrten sie zu ihrem eigenen Schoner zurück.
    Dasselbe hatte ich eigentlich auch seit langem vor, doch es ergab sich keine Gelegenheit. Der Schiffssteuermann blieb in der Regel an Bord und jede schlau eingefädelte List meinerseits wurde von Wolf Larsen vereitelt. Im Falle meiner Flucht hätte ich es irgendwie geschafft, Miss Brewster mit mir zu nehmen, doch es sollte nicht sein.
    Miss Brewster hatte mich schon seit langem durch ihre Dichtkunst verzaubert, jetzt verzauberte sie mich persönlich. Sie stand in totalem Widerspruch zu ihrer Umgebung. Sie war zart und geschmeidig, bewegte sich leicht und anmutig. Ihre Zerbrechlichkeit machte mich stets aufs Neue betroffen. Körper und Seele bildeten eine vollkommene Einheit. An ihr war nichts Robustes, sie schien über den Boden zu schweben.
    Maud Brewster war das genaue Gegenteil von Wolf Larsen: Sie befanden sich an entgegengesetzten Enden der menschlichen Entwicklungsgeschichte. Während er der Inbegriff von Wildheit und Brutalität war, verkörperte sie den Höhepunkt der Zivilisation.
    Beide machten einen Spaziergang auf Deck und kamen langsam auf mich zu. Ich merkte, dass sie verstört war, obwohl sie eine nichtssagende Bemerkung von sich gab und lachte. Doch ihr Blick, mit dem sie Wolf Larsen bedachte, verriet Faszination und Schrecken.
    Den Grund für ihre Verstörung fand ich in seinen Augen. Normalerweise waren sie grau, kalt und hart, jetzt aber leuchteten sie warm und weich und besaßen einen goldenen Schimmer. Sie blickten verführerisch und herrisch, gleichermaßen lockend und zwingend. Das konnte kaum eine Frau missverstehen.
    Ich erschrak und im selben Moment wurde mir klar, wie viel mir an ihr lag. Die Liebe zu ihr überflutete mich gleichzeitig mit dem Schrecken.
    Inzwischen war Wolf Larsen wieder der Alte. Seine Augen blickten grau und kalt, als er sich knapp verbeugte und ging.
    »Ich habe Angst«, flüsterte sie zitternd. »Ich habe solche Angst!«
    Auch ich empfand Furcht, aber ich sagte ruhig: »Alles wird gut, Miss Brewster. Vertrauen Sie mir, alles wird gut.«
    Sie dankte mir mit einem schwachen Lächeln, das mein Herz wild schlagen ließ. Dann wandte sie sich der Treppe zu.
    Lange Zeit blieb ich dort stehen, wo sie mich verlassen hatte. Ich musste unbedingt meine Fassung zurückgewinnen und über die veränderte Situation nachdenken. Endlich war die Liebe zu mir gekommen

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