Der Seher des Pharao
Zwei transformiert‹, und so weiter und weiter. Aber weil der Schatten immer noch Teil von ihm ist, kann Re-Atum am Ende ›Ab da bin ich Eins‹ sagen. Doch die Zwei, Vier und Acht, die Art, wie er seinen Schatten beruhigt und ordnet, was sind die?«
»Ich weiß es«, erklärte Mentuhotep ruhig. »Er fängt an, sich den Kosmos im Schatten vorzustellen. Frösche, Huy.«
Huy blinzelte. »Frösche?«
»Jeder Priester und jeder fromme Ägypter weiß das. Vier Paare. Zwei zu Vier zu Acht. Jedes Paar besteht aus Männlichem und Weiblichem, sie ziehen einander an, bewirken Harmonie, stärken das Ordnen des Chaos im Schatten – was einer allein oder zweimal Männliches nicht schaffen würden. Die männliche Hypostase wird durch einen Frosch symbolisiert, die weibliche durch eine Schlange. Der Nun ist das Urwasser, Naunet sein weibliches Gegenstück. Huh und Hauhet – der ewige Raum. Kuk und Kauket – Finsternis. Amun und Amaunet – das Verborgene. So wird der Schatten geordnet, und Atum bleibt Eins.«
Huy starrte ihn an. »Das ist wohlbekannt? Du wusstest es? Und warum hast du es mir dann nicht gesagt, Meister?«
Mentuhotep kam um den Tisch herum, ließ sich auf dem Hocker nieder und beugte sich, die Hände auf den Knien, über Huy. »Das Buch als Ganzes ist ein gefährliches Mysterium. Kleine Offenbarungen erhellen diesen Abschnitt für einige, einen zweiten für andere, und manche Abschnitte sind allen bekannt. Doch die Vollständigkeit, die Rundheit von Atums Willen wurde nur einem Leser gezeigt, dem großen Imhotep. Deshalb wird er selbst als Gott verehrt. Ich glaube, dass du auserwählt bist, das zu begreifen, was er begriffen hat.« Er lehnte sich zurück. »Verstehst du, Huy? Ich habe nicht erkannt, wieso der Schatten Teil von Atum ist. Jedenfalls nicht vor dem heutigen Tag. Und jetzt sind andere Dinge auch klar. Wieso die Dämonen Übel oder Wohltaten bringen können. Wieso die Chatiu-Dämonen, die Kämpfer, auch Habiu, Boten, sein können. Wieso jede Gottheit eine Kraft ist, die sich sowohl gegen uns richtet als uns auch Gutes tut. Nehmen wir Sachmet, die Göttin der weiblichen Freuden, Gemahlin des Ptah. In ihrer Blutrünstigkeit hätte sie die Menschen endgültig vernichtet, wenn ihr Re nicht rot gefärbtes Bier zu trinken gegeben hätte und sie berauscht wurde – jetzt ist sie die sanfteste Gottheit überhaupt!«
»Ramose hat mir gesagt, jede Gottheit ist nichts anderes als eine nach außen gekehrte Erscheinungsform von Re-Atum.«
»Auch das macht Sinn.«
»Also wird das Chaos zu Wasser, ewigem Raum, Finsternis und dem Verborgenen geordnet. Aber es gibt immer noch keine Schöpfung.« Huy rappelte sich hoch und ließ seine Schultern kreisen. Er fühlte sich, als hätte er ein Jahr lang nicht geschlafen. Deshalb hat sich der Frosch an meiner Jugendlocke in einen goldenen verwandelt, als ich ins Paradies kam, dachte er verschwommen. Re-Atums zweite Transformation wiederholte sich an mir, als ich, ohne es zu wissen, dabei war, in meine Erste Duat einzutreten. Er gähnte. »Bitte verzeih meine Unhöflichkeit! Kann ich jetzt nach Amunmose schicken lassen und meine Rückkehr nach Iunu vorbereiten?«
Mentuhotep lachte wehmütig. »Hast du es so eilig, Chmunu hinter dir verschwinden zu sehen? Nun gut, Huy. Deine Aufgabe hier ist erst einmal beendet. Komm mit mir ins Allerheiligste und empfange Thots Segen, ehe du abreist.« Die Einladung erfolgte beiläufig, aber Huy war überwältigt. Eigentlich durfte nur der Oberpriester unmittelbar vor den Gott treten. Erschöpft ging er unter Verbeugungen hinaus.
Huy traf mit großer Erleichterung wieder in Iunu ein. Er umarmte Anhor und Amunmose, ehe sie im Labyrinth des Tempelbezirks verschwanden – Anhor, um wieder seinen Pflichten als Wächter nachzukommen, der Diener, um in der Küche zu arbeiten. Huy wusste, dass er ihre Gesellschaft vermissen würde, insbesondere die Anhors. Der Mann war für ihn sowohl Beschützer als auch Tröster und Ermunterer gewesen, eine Rolle, die nach seinem Onkel Ker niemand mehr so recht eingenommen hatte. Doch während Huy beobachtete, wie sich Anhors breiter Rücken entfernte, war er sich sicher, dass ihre Beziehung eine Fortsetzung erfahren würde. Amunmose hatte ihn kurz umarmt. »Wenn du je ein reicher Mann wirst und das beste Essen in ganz Ägypten haben willst, denk an mich, Huy.« Dann war er lächelnd gegangen, und Huy blieb mit dem Gefühl zurück, irgendwie nackt zu sein.
11
Der Rest des Schuljahrs verlief für Huy
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