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Der Seher

Der Seher

Titel: Der Seher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Robert Silverberg
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um den Slogan von der Bestmöglichen Gesellschaft und zitierte in den ersten zwanzig Zeilen ein halbes Dutzend glitzernder Sätze aus der Rede. Der Artikel wurde dann auf Seite 21 fortgesetzt, und daneben erschien der vollständige Text der Rede in einem Kasten. Ich las sie, und während ich las, wunderte ich mich, warum ich so ergriffen gewesen war; denn die gedruckte Rede schien jeglichen wirklichen Inhalts zu entbehren; es war reines Wortgeklingel, eine Sammlung gefälliger Phrasen, die kein Programm bot, keine konkreten Vorschläge machte. Und mir hatte sie am Abend zuvor wie ein Fahrplan nach Utopia geklungen. Mir fröstelte.
    Quinn hatte nicht mehr als ein paar Haken an der Wand geboten; ich selbst hatte die schönen Bilder daran aufgehängt, all meine vagen Fantasien von sozialer Reform und Aufbruch in ein neues Jahrtausend. Quinns Auftritt war reinstes Charisma in Aktion gewesen, eine elementare Kraft, die vom Podium aus in uns hineinfuhr. So ist es mit all den großen Führern: Die Ware, die sie zu verkaufen haben, ist ihre Persönlichkeit. Bloße Ideen können geringeren Männern überlassen werden.
    Kurz nach acht klingelte das Telefon zum ersten Mal. Mardikian wollte tausend Videobänder von der Rede an Parteibüros der Neuen Demokraten im ganzen Land verteilen; was hielt ich davon? Lombroso meldete Zusagen von einer halben Million für die noch nicht existierende Kasse der Quinn-for-President-Kampagne, die nach der Rede eingegangen waren. Missa-kian… Ephrikian… Sarkisian…
    Als ich schließlich einen Moment Ruhe hatte, ging ich ins Wohnzimmer und fand Catalina Yarber, die nur ihre Bluse und Schenkelkette trug und Lamont Friedman gerade wachrüttelte.
    Sie schenkte mir ein füchsernes Grinsen. »Ich weiß, wir werden uns öfter sehen«, sagte sie kehlig.
    Sie gingen. Sundara schlief weiter. Weitere Anrufe kamen. Überall schlug Quinns Rede hohe Wellen. Schließlich kam Sundara heraus, nackt, köstlich, schläfrig, aber vollkommen in ihrer Schönheit – nicht einmal verquollene Augen hatte sie.
    »Ich glaube, Transit interessiert mich«, sagte sie.
     
14
    Drei Tage später – ich kam gerade nach Hause – entdeckte ich zu meiner Überraschung Sundara und Catalina, wie sie, beide nackt, Seite an Seite auf dem Teppich des Wohnzimmers knieten. Wie schön sie waren, der blasse Körper neben dem schokoladigen, das kurze blonde Haar und die lange schwarze Kaskade, die dunklen Brustwarzen und die rosigen. Aber es war nicht der Auftakt zur Orgie eines Paschas. Die Luft war von Räucheressenz geschwängert, und sie spulten Litaneien ab. »Alles vergeht«, intonierte Catalina, und Sundara wiederholte: »Alles vergeht.« Eine goldene Kette schnitt in den dunklen Satin des linken Schenkels meiner Frau, und daran hing das Medaillon des Transit-Glaubens.
    Sie und Catalina hatten für mich eine höfliche Kümmere-dich-nicht-um-uns-Haltung übrig und fuhren mit ihrem Treiben fort, offensichtlich einer ausgedehnten Katechismus-Lektion. Ich nahm an, sie würden sich irgendwann erheben und im Schlafzimmer verschwinden, aber nein, die Nacktheit hatte rein rituelle Funktionen, und als sie mit den Lehren fertig waren, schlüpften sie in ihre Kleider, machten Tee und schwatzten wie alte Freundinnen. Als ich mich in dieser Nacht Sundara näherte, sagte sie sanft, daß sie jetzt nicht lieben könne. Sie sagte nicht, daß sie nicht wolle oder nicht werde, sondern sie könne nicht. Als wäre sie in einen Zustand der Reinheit eingetreten, der nicht von Lust befleckt werden dürfte.
    So begann er also, Sundaras Weg zu Transit. Zuerst war es nur die Morgenmeditation, zehn Minuten in Stille; dann die abendlichen Lesungen aus mysteriösen Broschüren – schlechter Druck, billiges Papier; in der zweiten Woche verkündete sie, sie würde jetzt jeden Dienstagabend zu einer Versammlung in der Stadt gehen, und ob ich da ohne sie auskommen könne? Die Nächte von Dienstag auf Mittwoch wurden auch zu Nächten sexueller Enthaltsamkeit; es tat ihr leid, aber sie blieb fest. Sie wirkte abwesend, versunken, mit ihrer Konversion beschäftigt. Selbst ihre Arbeit, die Kunstgalerie, die sie so geschickt leitete, schien ihr unwichtig. Ich argwöhnte, daß sie Catalina tagsüber in der Stadt träfe, und hatte recht, obwohl ich mir in meiner naiven westlichen, materialistischen Art nur vorstellen konnte, daß sie eine Liebesaffäre hatten, sich in Hotelzimmern zu schlüpfrigen Umarmungen und Zungenschleckereien trafen, wo doch in Wirklichkeit

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