Der Seitensprung
ihm einflößte. Er wagte nicht einmal, sie anzusehen. Plötzlich wurde ihm bewusst, dass er sich vor ihr ekelte. Sie ekelte ihn an, weil sie in den letzten Jahren unerschütterlich wie eine Statue neben ihm gestanden hatte, während er allmählich immer tiefer in der Trostlosigkeit versunken war. Sie hatte dafür gesorgt, dass alles seinen gewohnten Gang ging, als spielte es gar keine Rolle, dass er sich kaum mehr beteiligte. Doch damit hatte sie nur erreicht, dass er sich nutzlos vorkam wie ein unfähiges Kind.
Immer alles so schnell. Alles erledigt und fertig, bevor er überhaupt gemerkt hatte, dass es getan werden musste. Immer bereit, Probleme zu lösen, auch diejenigen, die sie gar nichts angingen, bevor er selbst überhaupt zum Nachdenken gekommen war. Wie eine ungeduldige Dampflok stampfte sie los und versuchte, alles geradezubiegen. Aber alles konnte man nicht geradebiegen. Je deutlicher er signalisierte, dass er auf Abstand ging, desto eifriger hatte sie dafür gesorgt, dass es nicht auffiel. Und mit jedem Tag, der verging, wurde ihm bewusster, dass es eigentlich gar keine Rolle spielte, was er tat. Sie brauchte ihn nicht mehr.
Vielleicht hatte sie das nie getan.
Er war nur ein Ding, das im Laufe der Reise an die Lokomotive gekoppelt worden war.
Nicht eine Sekunde lang hatte sie begriffen, was er wirklich fühlte. Dass der Überdruss und die Vorhersehbarkeit ihn langsam, aber sicher erstickten. Das halbe Leben war vorüber, und genauso würde der Rest aussehen. Mehr als das würde nicht geschehen. Es war der Moment gekommen, in dem sich all das, was er wirklich wollte, nicht mehr länger aufschieben ließ. Das, was er später immer hatte tun wollen. Später war jetzt. Alle Träume und Erwartungen, die er gehorsam beiseite geschoben hatte, meldeten sich und fragten ihn immer nachdrücklicher, wohin sie ziehen sollten. Sollten sie ihn verlassen, oder wollte er, dass sie blieben, und wenn ja, warum? Weshalb sollten sie bleiben, wenn er ohnehin nicht vorhatte, einen einzigen von ihnen zu verwirklichen?
Er dachte an seine Eltern. Die saßen dort in Katrineholm in ihrem abbezahlten Einfamilienhaus. Alles geschafft und fertig. Abend für Abend Seite an Seite, jeder in seinem gut eingesessenen Fernsehsessel. Alle Gespräche seit langem verstummt, jede Rücksicht, jede Erwartung, alles war schon vor Jahren aufgrund mangelnder Nahrung unweigerlich eingegangen. Übrig blieben nur die gegenseitigen Vorwürfe darüber, was sie verloren hatten, was ihnen alles abhanden gekommen war. Weil sie einander nicht mehr hatten geben können und weil es seit langem zu spät war. Zwanzig Meter von den Sesseln entfernt verliefen die Eisenbahngleise, und jede Stunde, Jahr für Jahr, war der Zug vorbeigefahren, der sie von dort hätte wegbringen können. Nun hatten sie sich damit abgefunden, dass ausgerechnet ihr Zug niemals kommen würde. Er war vor langer Zeit vorbeigefahren und würde weiterhin vorüberdonnern und die gut geputzten Fensterscheiben im Wohnzimmer erzittern lassen. Sie hatten es nicht einmal geschafft, ein Sommerhäuschen zu erwerben, obwohl ihr Vermögen nach dem Verkauf der Autohandlung des Vaters das gut und gerne zugelassen hätte. Keine einzige Reise. Als wäre ein Ortswechsel für ihr Leben zu bedrohlich. Lange her, dass sie sich aufgerafft hatten und die hundert Kilometer nach Stockholm gefahren waren. Nicht einmal zu Axels sechstem Geburtstag kamen sie, sondern schickten bloß eine vorgedruckte Glückwunschkarte mit ihren Namenszügen und einem ungefalteten Hunderter darin. Anstatt an Familientreffen teilzunehmen, blieben sie zu Hause und gaben sich den Minderwertigkeitsgefühlen hin, die Evas wohlhabende Eltern mit ihren akademischen Ausbildungen und intellektuellen Freunden in ihnen auslösten. Gefangen in ihrem eigenen Dasein, saßen sie, wo sie saßen, verbittert und vergrämt.
Jeder als Geisel des anderen in der großen Angst vor der Einsamkeit.
Aus den Augenwinkeln sah er, dass sie reglos im Wohnzimmer stand. Das Geräusch vom Fernseher kam stoßweise, wie ein Puls im Takt des Herzschlags.
Er verspürte ein verzweifeltes Bedürfnis, Zeit zu gewinnen, sich an etwas zu klammern, das noch immer im Gewohnten verankert war.
»Hast du auf dem Heimweg Milch gekauft?«
Sie antwortete nicht. Die Angst pochte in seinem Magen. Warum hatte er nicht einfach weitergeschwiegen?
»Kannst du nicht den Fernseher ausschalten?«
Der Zeigefinger reagierte automatisch, drückte aber auf den falschen Knopf. Eine
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