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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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Sekunde lang gezögert, und das Reptiliengehirn beschloss, es nicht noch einmal zu versuchen. Das Gefühl, plötzlich nicht mehr zu gehorchen, verdrängte die Angst. Er hatte es in der Hand.
    »Hast du eine andere kennen gelernt?«
    »Nein.«
    Seine Lippen hatten die Antwort ohne sein Zutun geformt. Wie ein rettender Felsvorsprung beim freien Fall in den Abgrund. Ein Zwischenstopp, nicht mehr oben und noch nicht unten. Doch was sollte er dort?
    »Wie lange empfindest du schon so?«
    »Ich weiß nicht.«
    »Na ja, ungefähr. Sind es zwei Wochen oder zwei Jahre?«
    Seitdem ich denken kann, scheint mir.
    »Ein Jahr vielleicht.«
    Wie sollte er jemals wagen, es ihr zu erklären? Wie sollte er jemals den Mut haben, es klar auszusprechen? Was würde passieren, wenn er sagte, dass er sich innerlich seit sieben Monaten jede Sekunde des Tages ganz woanders befand?
    Bei ihr.
    Ihr, die ganz unerwartet in sein Herz gestürmt war und ihm einen Grund gegeben hatte, morgens wieder aufstehen zu wollen. Die ihm die Lust und den Willen zurückgegeben hatte. Sie, die all die Türen in seinem Innern geöffnet hatte, die seit langer Zeit verrammelt gewesen waren, und der es gelungen war, Schlüssel zu Zimmern zu finden, von deren Existenz er nicht die geringste Ahnung gehabt hatte. Die ihn als denjenigen betrachtete, der er wirklich war, die ihn wieder zum Lachen brachte und ihm neue Lebenslust schenkte. Die ihm das Gefühl gab, attraktiv zu sein, attraktiv, intelligent und tatkräftig.
    Wert, geliebt zu werden.
    »Aber warum? Und wie sollen wir deiner Meinung nach das Problem lösen?«
    Er wusste es nicht, brauchte nicht einmal zu lügen. Dort drinnen im Schlafzimmer lag sein sechsjähriger Sohn. Wie sollte er jemals das tun, was er eigentlich wollte, und ihm trotzdem noch in die Augen sehen können?
    Und wie sollte er sich jemals selbst wieder in die Augen schauen, wenn er nein sagte zu der gewaltigen Liebe, die er gefunden hatte, und stattdessen hier blieb?
    Einen kurzen Moment lang durchfuhr ihn Hass. Wenn sie, die dort wenige Meter von ihm entfernt im Wohnzimmer stand, nicht wäre, dann könnte er ...
    Mit ihren Vorwürfen würde sie all die Freude, die er empfand, in Scham und Schuld verwandeln. Sie besudeln. Sie in hässlichem und schmutzigem Licht erscheinen lassen.
    Er wollte doch einfach nur spüren dürfen, wie es war, wieder zu leben.
    »Wir haben keinen Spaß mehr.«
    Er hörte selbst, wie blöd das klang. Verfluchter Mist. Sie schaffte es immer wieder, dass er sich unterlegen fühlte. Sich dumm vorkam.
    Er spürte ihren Blick wie eine Fleisch gewordene Anklage. Er konnte sich nicht rühren.
    Es dauerte eine Ewigkeit, bis sie endlich aufgab und ins Schlafzimmer ging.
    Er lehnte sich zurück und schloss die Augen.
    Einen einzigen Wunsch hatte er.
    Einen einzigen.
    Dass sie hier bei ihm wäre, ihn umarmte und sagte, dass alles gut werden würde.
    Für den Augenblick war er gerettet, aber ihm war nur eine Gnadenfrist vergönnt.
    Von nun an war ihr Zuhause ein Minenfeld.

 
    »BRAUCHEN SIE NOCH etwas für die Nacht?« Die Nachtschwester stand in der Tür. In der einen Hand ein Tablett mit Medikamentenbechern, die andere in festem Griff um die Klinke. Sie sah gestresst aus.
    »Nein danke, wir kommen zurecht. Oder nicht, Anna?« Das letzte Schlückchen Brei tröpfelte durch die Sonde in ihren Magen, und er strich ihr sanft über die Stirn. Die Nachtschwester hielt kurz inne und warf ihm ein zerstreutes Lächeln zu.
    »Dann gute Nacht. Und vergessen Sie nicht, dass Dr. Sahlstedt morgen früh mit Ihnen sprechen möchte, bevor Sie gehen.«
    Wie hätte er das vergessen können? Sie kannte ihn offensichtlich nicht.
    »Nein, ich habe es nicht vergessen.«
    Sie lächelte wieder und schloss hinter sich die Tür. Sie war neu in der Abteilung, und er wusste nicht, wie sie hieß. Unter dem Personal gab es eine große Fluktuation, und er hatte es aufgegeben, seine Energie darauf zu verschwenden, sich die Namen zu merken. Insgeheim war er dankbar für den konstanten Personalmangel im Krankenhaus. Anfänglich war es vorgekommen, dass seine ständige Anwesenheit beim Personal für Irritation gesorgt hatte, aber im letzten Jahr hatten sie ihm mehr Dankbarkeit erwiesen. Manchmal betrachteten sie sie sogar als selbstverständlich, und einmal, als er im Stau stecken geblieben war und sich verspätet hatte, hatten sie vergessen, den bis zum Zerplatzen gefüllten Katheterbeutel zu wechseln. Das bestätigte ihn darin, dass sie ohne ihn nie die

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