Der Seitensprung
waren ernst. So Unheil verkündend ernst, dass ihm klar wurde, in diesem Gespräch würde es um mehr gehen als um eine gewöhnliche Berichterstattung.
Jonas veränderte seine Position auf dem Stuhl. Nicht die Armlehnen berühren.
»Wie alt sind Sie, Jonas?«
Er schluckte. Nicht fünf. Nicht einmal mit einer zwei davor.
»Ich werde nächstes Jahr sechsundzwanzig. Wieso? Ich dachte, wir wollten über Anna sprechen?«
Dr. Sahlstedt betrachtete ihn und sah dann hinunter auf die Tischplatte.
»Es geht nicht mehr um Anna. Es geht um Sie.«
Borlänge-Boden 848, Borås-Båstad 177.
»Was ... Ich verstehe nicht, was Sie meinen.«
Sahlstedt hob wieder den Blick.
»Wo haben Sie gearbeitet? Ich meine, bevor all das passierte?«
»Ich war Briefträger.«
Er nickte interessiert.
»Ah ja. Vermissen Sie denn nie Ihre Kollegen?«
Machte er sich lustig? Oder arbeiteten die Briefträger in der feinen Gegend, in der Dr. Sahlstedt in seiner Einbildung wohnte, etwa im Rudel?
Der Arzt ihm gegenüber seufzte leicht, als er keine Antwort erhielt, und öffnete die braune Mappe.
Hatte er wirklich nicht die Armlehne gestreift, als er sich hinsetzte? Er war sich nicht mehr sicher. Falls er es getan hatte, musste er sie noch einmal berühren, um die erste Berührung unschädlich zu machen. Doch wenn er sie nicht angefasst hatte? O Gott, irgendwie musste er es neutralisieren.
»Sie sind jetzt seit fast zweieinhalb Jahren krankgeschrieben. Genauso lange, wie Anna hier liegt.«
»Ja.«
»Warum eigentlich?«
»Was glauben Sie? Um bei Anna sein zu können natürlich.«
»Anna kommt hier ohne Sie zurecht. Das Personal kümmert sich um sie.«
»Sie wissen genauso gut wie ich, dass die keine Zeit haben, so viel mit ihr zu arbeiten, wie es nötig wäre.«
Dr. Sahlstedt sah plötzlich betrübt aus, er saß stumm da und schaute auf seine Hände hinunter. Die Stille trieb Jonas fast in den Wahnsinn. Mit aller Kraft versuchte er, der Raserei des Zwangs zu widerstehen, der in seinem Körper wütete wie ein Berserker.
Der Arzt richtete den Blick wieder auf ihn.
»Nötig wofür, Jonas?«
Er konnte nicht antworten. Das Handwaschbecken hing links von ihm an der Wand. Er musste sich unbedingt die Hände waschen. Musste die Berührung abwaschen, falls er die Armlehne gestreift hatte.
»Wie Sie wissen, geht das Fieber nicht hinunter, und wir haben gestern eine weitere Herzuntersuchung vorgenommen. Die Entzündung in der Aortenklappe geht nicht zurück. In regelmäßigen Abständen sendet sie kleine septische Embolien aus, ja, kleine Partikel, könnte man sagen, die mit Bakterien gefüllt sind. Diese Bakterien gehen direkt hinauf in ihren Hirnstamm, und deswegen erleidet sie ständig neue Hirnschläge.«
»Aha.«
»Das ist der dritte Hirnschlag in zwei Monaten. Und jedes Mal wird ihr Bewusstseinsgrad gesenkt.«
Diese Dinge waren ihm nicht neu. Die Ärzte schilderten immer das Schlimmste, um ihm keine falschen Hoffnungen zu machen.
»Sie müssen versuchen zu akzeptieren, dass sie nie wieder aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachen wird.«
Er konnte nicht länger dagegen ankämpfen, sondern musste aufstehen und zum Waschbecken gehen.
Vier Schritte. Nicht drei.
Er musste sich die Hände waschen.
»Wir können nichts mehr für sie tun. Tief im Innern wissen Sie das auch, oder?«
Er ließ sich das Wasser über die Hände rinnen. Schloss die Augen und spürte die Befreiung, als der Druck nachließ.
»Sie müssen jetzt anfangen loszulassen. Versuchen Sie, einen Schritt weiterzukommen.«
»Sie hat reagiert, als ich sie heute Morgen massiert habe.«
Dr. Sahlstedt seufzte hinter seinem Rücken.
»Es tut mir Leid, Jonas. Ich weiß, wie sehr Sie um sie gekämpft haben, das haben wir alle getan. Aber jetzt kann es um Monate gehen oder um Wochen, wir wissen es nicht. Im schlimmsten Fall kann sie noch ein Jahr so liegen bleiben.«
Im schlimmsten Fall.
Er ließ das Wasser laufen. Stand mit dem Rücken zu dem Mann, der sich als Annas Arzt ausgab. Unfähiger Idiot. Wie konnte er behaupten zu wissen, was sich in ihrem Innern regte. Wie oft hatte er ihre Beine massiert? Hatte er neben ihr gesessen und versucht, ihre verkrüppelten Finger zu strecken? Parfüm und Obst mitgebracht, um ihren Geruchssinn aufrecht zu erhalten? Niemals. Er hatte lediglich ein paar Schläuche an ihrem Schädel befestigt, auf einen Knopf gedrückt und die Schlussfolgerung gezogen, sie sei unfähig, etwas zu empfinden.
»Warum reagiert sie dann?«
Dr. Sahlstedt saß eine
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