Der Seitensprung
Stellungnahmen. Welcher Anbieter für den preiswertesten Telefonanschluss, welcher Öllieferant war am günstigsten, wie sollte man das Geld für die Rente anlegen, welche Schule war am besten, welcher Hausarzt, wo zahlte man die niedrigsten Zinsen für den Hauskredit? Und in ihrer eigenen kleinen Welt drehte sich alles um die Frage, was für sie und ihre kleine Familie am besten und vorteilhaftesten war. Unendlich viele Wahlmöglichkeiten, und doch wusste man nie, ob man sich richtig entschieden hatte. Alle waren sich selbst am nächsten. Wenn alle aufgezwungenen Entscheidungen getroffen waren, blieb keine Kraft mehr für die Stellungnahmen, die wirklich wichtig gewesen wären. Die das verändert hätten, was wirklich hätte verändert werden sollen. Sie erinnerte sich an das ironische Zettelchen, das an der Pinnwand in ihrem Jungmädchenzimmer hing: »Natürlich engagiere ich mich gegen alle Ungerechtigkeiten auf der Welt. Ich habe doch mehrmals Pfui gesagt!« So würde sie niemals werden. Dachte sie damals.
»Hast du heute schlechte Laune?«
Axel beantwortete Kerstins Frage nicht, und Eva hockte sich neben ihn.
»Das war kein guter Morgen heute. Nicht wahr, Axel?«
Filippa und ihre Mutter kamen zur Tür herein, und Kerstins Aufmerksamkeit richtete sich nun auf die beiden.
Eva zog Axel an sich und hielt ihn im Arm.
Alles wird gut. Du brauchst keine Angst zu haben. Ich verspreche, dass ich das hier in Ordnung bringe.
»Du, Axel, der Morgenkreis fängt jetzt an, die anderen sitzen schon da drinnen. Komm, wir gehen rein, heute bist du doch an der Reihe, das Obst aus der Küche zu holen.«
Kerstin streckte ihm die Hand entgegen, und endlich gab er nach, ging zu seinem Kleiderhaken und hängte seine Jacke darüber. Eva richtete sich auf.
»Um vier holt Henrik ihn ab.«
Kerstin lächelte und nickte, nahm Axel an der Hand und verschwand im Spielzimmer. Eva ging hinterher.
Vielleicht war sie diejenige, der der Abschied schwerer fiel. Axel ließ Kerstins Hand los und rannte zu Linda, einer der anderen Erzieherinnen, und kletterte auf ihren Schoß. Dankbar spürte sie, wie die schlimmste Besorgnis nachließ. Vor sich sah sie seine Alltagswelt, und bis sie alle Probleme gelöst hatte, ging es ihm wenigstens hier gut. Linda strich Axel übers Haar und schenkte ihr ein kurzes Lächeln.
Eva lächelte zurück.
Hier war er sicher.
JONAS ERSCHIEN PÜNKTLICH zu dem Gesprächstermin, zu dem er gebeten worden war. Er hatte mehr als eine Viertelstunde gewartet, als Dr. Sahlstedt durch den Gang heraneilte und die Tür zu seinem Zimmer aufschloss.
»Tut mir Leid, dass Sie warten mussten, ich musste zu einem Patienten unten in der Notaufnahme. Kommen Sie rein.«
Er schloss die Tür hinter ihnen und setzte sich an seinen Schreibtisch.
Jonas blieb stehen. Annas Ruhe war wie weggeblasen, der Zwang wusste ganz genau, dass er nun nicht mehr eingeschränkt war, und bald würde er sich zu ausreichender Stärke ausgewachsen haben. Nun würde er für den Frieden der Nacht bezahlen müssen. Er hatte die Anzeichen bereits beim Warten auf dem Korridor vernommen. Eine schleichende Unruhe, die während der morgendlichen Visite begonnen hatte. Die Blicke des Personals auf Annas schlafendem Körper. Kein spezielles Wort, sondern eher ein neuer Tonfall, eine vage Andeutung.
»Setzen Sie sich doch bitte.«
Er spürte, wie der Zwang wuchs, Schritt für Schritt die Macht übernahm.
Vier Schritte bis zum Besucherstuhl. Nicht drei oder fünf. Sonst hätte er zurück zur Tür gehen und von vorne anfangen müssen. Drei und fünf mussten um jeden Preis vermieden werden.
Ohne die Armlehne des Stuhls zu berühren, setzte er sich und verfolgte Sahlstedts Hand mit den Augen, die eine braune Akte zu sich heranzog, dann aber auf der geschlossenen Mappe liegen blieb.
Dr. Sahlstedt sah ihn schweigend an.
Hatte er wirklich vier Schritte gemacht? Er war nicht mehr sicher. Um Gottes willen. Alingsås-Arjeplog 1179 Kilometer, Arboga-Arlanda 144, Arvidsjaur-Borlänge 787.
»Wie geht es Ihnen?«
Die unerwartete Frage überrumpelte ihn. Er wusste, dass der Zwang äußerlich nicht sichtbar war. Nach all den Jahren hatte er eine einzigartige Fähigkeit entwickelt, sein inneres Inferno zu verbergen.
Und die Scham darüber, dass er es nicht kontrollieren konnte.
»Danke gut.«
Es wurde still. Falls der Arzt vor ihm tatsächlich an seinem Gesundheitszustand interessiert gewesen war, hatte die Antwort ihn offensichtlich nicht befriedigt. Seine Augen
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