Der Seitensprung
Grund gegeben.
Immer so wenig Zeit.
Sie hatte kurz überlegt, ob sie vielleicht zu ihm hineingehen und fragen sollte, aber gleich darauf den Gedanken bereut. Er sollte zu ihr kommen.
Erst gegen drei hatte sie gehört, wie die Schlafzimmertür langsam geöffnet wurde und er sich zu seiner Hälfte des Ehebettes geschlichen hatte.
Axel als Schutzmauer zwischen ihnen.
Nur wenige Minuten vor dem Morgenkreis parkte sie vor dem Kindergarten. Axel war immer noch schlechter Laune, obwohl sie während der Autofahrt nach Kräften versucht hatte, seine Stimmung zu heben. Es würde einen furchtbaren Abschied geben. Axels weinendes Gesicht hinter der Glasscheibe.
Wie sollte sie das heute ertragen?
Auf dem Weg durch die Tür stieß sie mit dem Vater von Daniel zusammen.
»Hallo, Eva, gut, dass ich dich treffe, ich wollte euch heute anrufen. Wir veranstalten dieses Abendessen am Siebenundzwanzigsten, wie gehabt. Passt es euch immer noch?«
»Ja, ich glaube schon.«
Er warf einen Blick auf seine Uhr und setzte das Gespräch fort, indem er sich rückwärts seinem Auto näherte.
»Diese Leute, die weiter unten in der Straße eingezogen sind, wollten wir auch einladen, du weißt, dieses Haus, wo das ältere Paar gewohnt hat. Ich kann mich nicht erinnern, wie sie hießen.«
»Ich weiß, wen du meinst. Da ist also jemand eingezogen?«
»Ja, und sie haben bestimmt Kinder in unserem Alter, deshalb wollten wir sie gleich in die Nachbarschaft integrieren. Es ist doch praktisch, in Sichtweite zu wohnen, wenn man zum Abendessen eingeladen ist.«
Er lachte über seinen Witz und sah noch einmal auf die Uhr.
»Verfluchter Mist. Ich habe in einer Viertelstunde ein Treffen auf Kungsholmen. Wieso kann man nie eine halbe Stunde eher aufstehen?«
Er seufzte tief.
»Ja, ja. Schöne Grüße.«
Er stieg in sein Auto, und sie zog die Tür näher an sich heran, um Axel hereinzulassen.
Immer diese Eile. Verschlafene Kinder und gestresste Eltern, die sich, schon bevor sie ihren Arbeitsplatz erreicht hatten, darum sorgten, was sie heute wieder alles nicht zu Ende bringen würden, ehe sie zurückhasten mussten, um ihre Kinder pünktlich abzuholen. Alle ständig auf dem Sprung und außer Atem, die Uhr als größten Feind.
Musste es wirklich so sein?
Sie traten ein, und Kerstin kam aus dem Spielzimmer, um sie zu begrüßen.
»Hallo, Axel. Hallo, Eva.«
»Hallo.«
Axel antwortete nicht, sondern wandte ihr den Rücken zu und drückte seine Stirn an den Trockenschrank. Sie war dankbar, dass sie an diesem Tag von Kerstin begrüßt wurden, sie war die Angestellte, die sie am besten kannte. Seit Axels erstem Tag vor fünf Jahren hatte sie mit nie versiegendem Enthusiasmus sowohl als Erzieherin als auch als Leiterin gearbeitet. Getrieben von einem Engagement, als könnte sie die Welt verändern, indem sie die Kinder in ihrer Obhut ständig daran erinnerte, wie wichtig es war, sich in andere Menschen hineinzuversetzen, und ihnen geduldig beibrachte, was falsch und was richtig war. Eva war voller Bewunderung und hatte sich oft gefragt, woher sie die Kraft nahm, vor allem, wenn sie daran dachte, wie müde sie sich selbst fühlte. Aber auf der anderen Seite waren Kerstins eigene Kinder schon über zwanzig, vielleicht war das der Unterschied.
Und die Uhr ihr größter Feind.
Sie erinnerte sich an ihr Engagement als Schulsprecherin in der Schülervertretung auf dem Gymnasium, Greenpeace, Amnesty, ihren brennenden Willen, etwas zu verändern. Und sie erinnerte sich, wie es sich anfühlte, als sie die Überzeugung noch nicht verloren hatte, dass es möglich war, das Falsche in Ordnung zu bringen, dass Ungerechtigkeiten aufhören konnten. Wenn sie nur genügend Zeit und Energie investierte, dann konnte die Welt verändert werden. Damals, als ihre Wut über einen zu Unrecht inhaftierten Menschen auf der anderen Seite der Erdkugel sie dazu veranlasste, Unterschriftenlisten zu sammeln und Demonstrationen zu organisieren. Jetzt, da sie erwachsen geworden und wirklich die Möglichkeit gehabt hätte, etwas zu tun, war sie dankbar, wenn sie es schaffte, einen Elternabend im Kindergarten zu besuchen, der ihren eigenen Sohn betraf. Der Wunsch, etwas zu verändern, hatte sich mit großer Eile in die Hoffnung verwandelt, dass die Stunden des Tages ausreichten. Die Wut in ein tiefes Seufzen und ein paar schuldbewusste Wechselmünzen in die Sammelbüchse des Roten Kreuzes vorm Supermarkt-Konsum. Alles, um das schlechte Gewissen zu betäuben. Ständig neue
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