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Der Seitensprung

Titel: Der Seitensprung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karin Alvtegen
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dann, als immer offensichtlicher wurde, wie ernst ihre Schäden waren, hatte sich der Druck, die verwickelten Rituale auszuführen, zu einem unentrinnbaren Zwang gesteigert. Die einzige Art, die Bedrohung unschädlich zu machen, war nachzugeben. Wenn er den Impulsen nicht gehorchte und die Befehle nicht ordentlich ausführte, würde etwas Entsetzliches geschehen. Was, wusste er nicht, nur, dass die Angst und der Schmerz unerträglich wurden, wenn er sich dem Zwang widersetzte.
    Im Teenageralter war das anders gewesen. Damals hatte der Druck schon nachgelassen, wenn er es vermieden hatte, die Türklinke mit den bloßen Händen zu berühren, wenn er rückwärts die Treppe hinunterging oder alle Laternenpfähle anfasste, an denen er vorbeikam. Damals war es leichter gewesen, damit umzugehen. Damals, als man sich noch hinter der Selbstbezogenheit des Teenagers verstecken konnte.
    Niemand wusste davon, weder damals noch heute, und da er sich des Wahnsinns, der in seinem Treiben lag, sehr wohl bewusst war, hatte er Kniffe und Gesten entwickelt, um seine Zwangshandlungen in Krisensituationen wie einen natürlichen Teil seines Bewegungsmusters erscheinen zu lassen.
    Jeder Tag ein heimlicher Krieg.
    Nur während des Jahres mit Anna war er frei gewesen.
    Geliebte Anna. Niemals würde er sie verlassen.
    Sein Handy klingelte in der Jackentasche. Er nahm es heraus und sah auf den Display. Keine Nummer. Zwei Klingeltöne. Er musste nach dem vierten antworten oder es bleiben lassen.
    Es konnte das Karolinska sein.
    »Jonas.«
    »Hier ist Papa.«
    Nicht jetzt. Mist.
    »Du musst mir helfen, Jonas.«
    Er war besoffen. Besoffen und traurig. Und Jonas wusste, warum er anrief. Es waren acht Monate vergangen, seitdem er das letzte Mal angerufen hatte, und damals war es aus demselben Grund gewesen. Wie immer. Dass er nicht öfter anrief und jammerte, lag wohl vor allem daran, dass er selten nüchtern genug war, um sich an die Nummer zu erinnern.
    Im Hintergrund hörte er Menschen. Sein Vater saß irgendwo an einer Theke und trank.
    »Ich habe jetzt keine Zeit zu reden.«
    »Verdammt, Jonas, du musst mir helfen. Ich kann nicht länger so weiterleben, ich halt das nicht mehr ...«
    Die Stimme brach, und im Hörer wurde es still. Nur das Gemurmel.
    Er lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schloss die Augen. Solange er denken konnte, hatte sein Vater Tränen als letztes Druckmittel angewandt. Immer. Erschrocken über die Verletzbarkeit seines Vaters, hatte Jonas versucht, loyal zu sein, und war damit zwangsläufig mit hineingerutscht in den Betrug.
    Dreizehn war er, als es anfing.
    Sag ihr einfach, dass ich heute Abend Überstunden mache. Verdammt, Jonas, du weißt doch, dass diese ..., ja, Himmel, Arsch und Wolkenbruch, die geht ab wie eine Rakete.
    Dreizehn Jahre und der Komplize seines Vaters. Die Wahrheit, worin auch immer die bestand, und egal, wo sie zu finden war, musste um jeden Preis vor seiner Mutter geheim gehalten werden.
    Um sie zu schützen.
    Jahraus, jahrein.
    Und dann die ständige Frage in ihm, warum sein Papa tat, was er tat. Es gab viele im Ort, die es wussten. Er konnte sich noch an all die Gespräche erinnern, die plötzlich verstummten, wenn er und seine Mutter den Lebensmittelladen betraten, und die sofort wieder aufgenommen wurden, wenn er ihnen den Rücken zukehrte. Das mitleidige Lächeln, das so viele Nachbarinnen und Freundinnen auf sie richteten, Menschen, die sie für ihre Freunde hielt, die aber die Wahrheit Jahr für Jahr aus Feigheit verschwiegen. Und er selbst ging dort neben ihr und schwieg auch, der schlimmste Verräter von allen. Er erinnerte sich an ein Gespräch, das er einmal mit angehört hatte, sie saß mit der Nachbarin in der Küche. Seine Mutter glaubte, er wäre hinausgegangen und bekäme nichts mit, aber er lag im Bett und las eine Comiczeitschrift. Er hörte sie weinend von ihrem Verdacht erzählen, ihr Mann hätte eine andere kennen gelernt. Hörte, wie sie da an ihrem Küchentisch saß und sich ein Herz fasste, um diese schmachvollen Befürchtungen auszusprechen. Doch die Nachbarsfrau log. Sie log seiner Mutter direkt ins Gesicht und ließ sich zu Kaffee und selbst gebackenen Zimtschnecken einladen. Log und sagte, dass seine Mutter sich bestimmt alles nur einbildete, dass es in allen Ehen auf und ab ginge und sicherlich kein Grund zur Unruhe bestünde.
    Und die Männer stachelten seinen Vater schulterklopfend zu neuen Eroberungen an, zu weiteren Überstunden, die seinen Ruf als

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