Der Seitensprung
Weile schweigend da.
»Ich habe ja lange versucht, Sie davon zu überzeugen, dass ein Gespräch mit einem unserer ..., einer meiner Kolleginnen hier im Karolinska, aber ..., nun, ich habe mir die Freiheit genommen, einen Termin für Sie zu vereinbaren. Ich bin mir sicher, es wird Ihnen helfen, das Ganze durchzustehen. Sie haben das Leben doch noch vor sich, Jonas. Ich glaube nicht, dass Anna wollen würde, dass Sie es hier im Krankenhaus verbringen.«
Der plötzliche Zorn kam wie eine Befreiung. Der Zwang klang ab und wich zur Seite. Er drehte den Hahn zu, nahm zwei Papierhandtücher und drehte sich um.
»Sie haben doch gerade gesagt, sie könne nichts empfinden. Wieso sollte sie sich dann darum scheren?«
Dr. Sahlstedt saß regungslos da. Ein plötzliches Piepen aus seiner Brusttasche brach das Schweigen.
»Ich muss gehen. Wir reden ein anderes Mal weiter. Sie haben morgen früh um Viertel nach acht einen Termin bei Yvonne Palmgren.«
Er riss einen gelben Post-it-Zettel vom Block ab und reichte ihn hinüber. Jonas rührte sich nicht.
»Jonas, es ist zu Ihrem Besten. Vielleicht wird es Zeit, dass Sie auch ein wenig an sich selbst denken.«
Dr. Sahlstedt gab auf und klebte den Zettel auf die Tischplatte, bevor er durch die Tür verschwand. Jonas blieb stehen. Mit einer Psychologin reden! Worüber denn? Sie würde versuchen, in seine Gedanken einzudringen, und wieso sollte er das zulassen? So gut, wie es ihm bislang gelungen war, alle davon fern zu halten.
Nur Anna hatte er eingelassen.
Sie gehörte ihm, und er gehörte ihr. So würde es immer sein. Zwei Jahre und fünf Monate lang hatte er seine gesamte Zeit darauf verwendet, sie wieder gesund zu machen. Dafür zu sorgen, dass alles wieder gut würde. Und jetzt sollte er akzeptieren, dass alles vergeblich gewesen war?
Niemand durfte ihm das wegnehmen.
Niemand.
Draußen hatte es angefangen zu regnen. Wenn er im Krankenhaus übernachtete, nutzte er immer den öffentlichen Nahverkehr, weil die Parkgebühren so hoch waren. Er knöpfte seine Jacke zu und ging in Richtung U-Bahn.
Ihm graute vor der Nacht, er wusste genau, was ihn erwartete. In der Einsamkeit seiner Wohnung nahm die Kontrollsucht überhand. Die ständige Sorge, etwas Wichtiges vergessen zu haben. Den Wasserhahn im Badezimmer – hatte er ihn fest zugedreht? Und die Herdplatten? Und wie war es mit der Tür, hatte er die wirklich abgeschlossen? Dann die vorübergehende Ruhe, wenn er überprüft hatte, dass alles so war, wie es sein sollte. Doch was, wenn er im Vorbeigehen an den Lichtschalter im Badezimmer gestoßen war, ohne es zu merken? Vielleicht hatte er versehentlich den Herd eingeschaltet, als er kontrollierte, dass er ausgeschaltet war. Und er war nicht mehr sicher, ob er die Tür abgeschlossen hatte. Musste noch einmal nachschauen.
Am einfachsten war es, sich von dort fern zu halten. Dann wusste er, dass alles unter Kontrolle war. Bevor er die Wohnung verließ, drehte er immer alle Heizkörper ab, zog alle Kabel von elektrischen Maschinen und Apparaten aus den Steckdosen und wischte den Staub von den Steckkontakten. Man wusste nie, ob sich vielleicht ein Funke bildete und es zu brennen begann. Die Fernbedienung bewahrte er in einer Schublade auf, sie durfte unter keinen Umständen auf dem Tisch liegen bleiben, damit kein Sonnenstrahl durch das Fenster auf den Sensor traf und ihn in Brand steckte.
Und dann das Verlassen der Wohnung. Im letzten halben Jahr war das Abschließritual so kompliziert geworden, dass er es sich auf einem Bogen Papier notieren musste, den er in der Brieftasche aufbewahrte, damit er ganz sicher nichts vergaß.
Unten auf der Straße blieb er stehen und sah hinauf zu den schwarzen Fenstern der Wohnung. Ein Mann um die fünfzig, den er noch nie gesehen hatte, kam aus der Eingangstür und sah ihn argwöhnisch an. Er brachte es nicht über sich, hinauf in seine Wohnung zu gehen, und nahm stattdessen sein Schlüsselbund aus der Tasche und setzte sich ins Auto, startete den Motor und ließ ihn im Leerlauf brummen.
Nur bei Anna hatte er seinen Frieden. Nur sie war stark genug, die vernichtende Angst zu besiegen.
Und nun meinten sie, er solle loslassen und einen Schritt weitergehen.
Wohin?
Wohin sollte er ihrer Meinung nach gehen?
Sie war alles, was er hatte.
Nach dem Unglück hatte es wieder angefangen. Hatte sich schleichend genähert, ihn belauert, zu Beginn bloß als das diffuse Bedürfnis, Symmetrie zu schaffen und das Gleichgewicht wiederherzustellen. Und
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