Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
den Leichnam nicht gesehen habe, werde ich kein Wort sagen. Es scheint sich um etwas sehr Ernstes zu handeln. Haben Sie die Freundlichkeit zu warten, während ich mich ankleide.« Mit der gleichen ernsten Haltung nahm er rasch sein Frühstück ein und eilte auf die Polizeiwache, wohin der Tote geschafft worden war. Sobald der Anwalt die Zelle betreten hatte, nickte er.
»Ja, ich erkenne ihn, es schmerzt mich, sagen zu müssen, daß es Sir Danvers Carew ist.«
»Großer Gott«, rief der Beamte aus, »ist das möglich?« Im nächsten Moment strahlte sein Auge vor beruflichem Ehrgeiz. »Das wird großen Lärm verursachen«, sagte er, »vielleicht können Sie uns zu unserem Manne verhelfen«, und kurz berichtete er, was das Mädchen gesehen hatte, und zeigte den zerbrochenen Stock. Mr. Utterson hatte schon davor gezittert, den Namen Hyde zu hören, doch als der Stock ihm vorgelegt wurde, konnte er nicht länger zweifeln; zerbrochen und zersplittert wie der Stock war, erkannte er in ihm einen wieder, den er vor vielen Jahren Henry Jekyll geschenkt hatte.
»Ist dieser Mr. Hyde ein Mensch von kleiner Statur?« erkundigte er sich.
»Auffallend klein und auffallend böse aussehend, so beschrieb ihn wenigstens das Mädchen«, sagte der Beamte. Mr. Utterson dachte nach. Dann erhob er seinen Kopf: »Wenn Sie mich in meinem Wagen begleiten wollen, kann ich Sie, wie ich glaube, zu seinem Hause führen.«
Mittlerweile war es etwa neun Uhr geworden, und der erste Nebel dieses Jahres bedeckte die Stadt. Ein weites, schokoladenfarbiges Leichentuch überzog den Himmel, doch der Wind sprang ständig um und trieb den zusammengeballten Dunst vor sich her, so daß Mr. Utterson, während der Wagen von Straße zu Straße kroch, in erstaunlicher Wiederholung ein Ab- und Zunehmen des Zwielichtes beobachtete. Bald wurde es dunkel wie zu später Abendstunde, dann tauchte ein kräftiger und doch geisterhaft bräunlicher Schimmer auf wie das Leuchten einer seltsamen Feuersbrunst, dann zerteilte der Nebel sich sekundenlang fast völlig, und ein abgehärmtes bißchen Tageslicht glänzte zwischen den wirbelnden Schwaden hervor. Das elende Stadtviertel von Soho mit seinen schmutzigen Straßen, seinen schlampigen Bewohnern und mit seinen Laternen, die entweder überhaupt noch nicht ausgelöscht oder schon von neuem angezündet waren, um diese trostlose neue Invasion der Finsternis zu bekämpfen, erschien in des Anwalts Augen, in diesem Wechsel zwischen Hell und Dunkel, wie der Distrikt einer Stadt in einem wüsten Traumgebilde. Auch sonst bewegten traurige Gedanken seinen Geist, und wenn er einen Blick auf seinen Fahrtgefährten warf, empfand er einen Hauch jener Furcht vor dem Gesetz und den Gesetzesvertretern, die bisweilen auch den Ehrenhaftesten überfallen kann.
Als der Wagen vor der angegebenen Adresse hielt, lichtete sich der Nebel und zeigte ihm eine elende Straße, eine prunkvoll aufgedonnerte Kneipe gemeinster Sorte, ein Weinlokal sechsten Ranges, einen Laden, in dem billiger Kram und minderwertige Schleckereien feilgeboten wurden, zahlreiche in Lumpen gehüllte Kinder, die in den Torwegen herumlungerten, und eine Unmenge Weiber der verschiedensten Nationalitäten, die mit dem Schlüssel in der Hand aus und ein gingen, um ihren morgendlichen Schnaps zu trinken. Im nächsten Augenblick legte sich wieder Nebel über diese Szenerie, braunschwarz wie Umbra, und verhüllte die gemeine Umgebung. Das war das Heim von Harry Jekylls Günstling, das Heim eines Mannes, der der Erbe einer Viertelmillion Pfund Sterling war.
Eine weißhaarige alte Frau mit einem vergilbten Gesicht öffnete die Tür. Sie hatte einen bösartigen Ausdruck, gemildert durch Heuchelei, aber ihr Benehmen war tadellos. Ja, sagte sie, dies sei Mr. Hydes Wohnung, aber er wäre nicht zu Hause; er wäre heute nacht sehr spät nach Hause gekommen, aber bereits nach kaum einer Stunde wieder ausgegangen. Daran wäre nichts Merkwürdiges, er hätte sehr unregelmäßige Gewohnheiten und wäre häufig abwesend. So wären zum Beispiel fast zwei Monate verstrichen, ohne daß sie ihn gesehen hätte, bis zum gestrigen Tage.
»Na schön, dann wünschen wir seine Zimmer zu sehen«, entgegnete der Anwalt, und als die Frau auseinanderzusetzen begann, daß das unmöglich wäre, fügte er hinzu: »Ich hätte Ihnen gleich sagen sollen, wer dieser Herr ist. Es ist der Inspektor Newcomen von Scotland Yard.«
Ein Ausdruck widerlicher Freude zeigte sich auf dem Gesicht des Weibes. »Ah«, rief sie
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