Der seltsame Fall von Dr. Jekyll und Mr. Hyde
Neues, sondern eine Sache, die schon ein dutzendmal vorgekommen war. Wo Utterson beliebt war, war er wirklich beliebt. Die Gastgeber hielten den nüchternen Anwalt gern zurück, wenn die Leichtherzigen und Geschwätzigen bereits ihre Füße auf die Türschwelle gesetzt hatten; sie liebten es, eine Zeitlang still in seiner nie aufdringlichen Gesellschaft zu sitzen als Vorbereitung auf die Einsamkeit, und nach den Aufwendungen und Anstrengungen der Fröhlichkeit bei des Mannes kostbarem Schweigen ihre Geister zu klären. Zu dieser Regel bildete Dr. Jekyll keine Ausnahme, und als er ihm jetzt am Kamin gegenübersaß - ein großer, wohlgestalteter Mann mit ruhigem Gesicht, in den Fünfzigern, vielleicht mit einem etwas allzu schlauen Ausdruck, aber doch allen Zeichen von Klugheit und Güte -, konnte man an seinen Blicken sehen, daß er Mr. Utterson eine aufrichtige und warme Neigung entgegenbrachte.
»Ich muß mit dir dringend sprechen, Jekyll«, begann der letztere. »Du erinnerst dich doch an dein Testament.« Ein scharfer Beobachter hätte vielleicht bemerkt, daß das Thema sehr unwillkommen war, und doch nahm der Doktor es völlig heiter auf. »Mein armer Utterson«, sagte er, »du bist unglücklich über diesen Klienten. Ich sah noch niemals einen Menschen sich so elend fühlen, wie du es angesichts meines Testamentes tatest, höchstens jenen dickfelligen Pedanten Lanyon über meine sogenannte wissenschaftliche Ketzerei. Oh, ich weiß, er ist ein guter Kerl - du brauchst gar nicht die Stirne zu runzeln, ein famoser Bursche, und ich bin überzeugt, man kann noch viel von ihm erwarten; aber trotzdem ein dickfelliger Pedant, ein dummer, polternder Pedant. Kein Mensch hat mich im Leben so enttäuscht wie Lanyon.«
»Du weißt, ich habe es nie gebilligt«, fuhr Utterson unter rücksichtsloser Mißachtung des neuen Themas fort. »Mein Testament? Ja natürlich, das weiß ich«, entgegnete der Doktor eine Spur schärfer, »das hast du mir ja schon oft gesagt.«
»Gewiß, und ich sag es dir wieder«, fuhr der Anwalt fort, »ich habe inzwischen Verschiedenes über den jungen Hyde erfahren.«
Das großgeschnittene Antlitz Dr. Jekylls wurde bleich bis in die Lippen, und seine Augen verdüsterten sich.
»Ich wünsche hierüber nichts mehr zu hören. Das ist eine Angelegenheit, meine ich, die wir vereinbart hatten, nicht mehr zu berühren.«
»Was ich hörte, war einfach scheußlich«, sagte Utterson. »Das ändert nichts daran, du verstehst meine Lage nicht«, wiederholte der Doktor in ziemlicher Verwirrung.
»Ich befinde mich in einer qualvollen Situation, Utterson. Meine Lage ist sehr seltsam - ungewöhnlich seltsam. Es ist eine von jenen Affären, die sich durch Sprechen nicht bessern lassen.«
»Jekyll«, sagte Utterson, »du kennst mich: Ich bin ein Mann, dem man vertrauen kann. Schütte mir dein Herz aus, und ich zweifle keinen Augenblick, ich kann dir heraushelfen.« »Mein guter Utterson«, sagte der Doktor, »das ist sehr lieb von dir, es ist unendlich gut von dir, und ich kann keine Worte finden, um dir zu danken. Ich glaube dir restlos. Ich würde dir mehr vertrauen als jedem anderen Menschen auf der Welt, ja mehr als mir selbst, wenn ich die Wahl hätte, aber wirklich, es ist nicht das, was du vermutest. Es ist nicht so schlimm, und, um dein gutes Herz zu beruhigen, will ich dir wenigstens eine Sache sagen: Sobald ich es will, kann ich mich von Mr. Hyde befreien, darauf geb' ich dir meine Hand, und vielen, vielen Dank! Und jetzt möchte ich nur noch ein kleines Wort sagen, Utterson, und ich bin überzeugt, du wirst es nicht übelnehmen: Dies ist eine Privatsache, und ich bitte dich, laß sie ruhen.«
Utterson blickte ins Feuer und überlegte eine Weile. »Ich bin überzeugt, du hast vollkommen recht«, sagte er endlich und sprang auf.
»Sehr schön«, fuhr der Doktor fort, »aber da wir einmal und, wie ich hoffe, zum letztenmal diese Geschichte berührt haben, so gibt es da noch einen Punkt, von dem ich gern möchte, daß du ihn verstehst. Ich nehme wirklich ein sehr großes Interesse an dem armen Hyde. Ich weiß, du hast ihn gesehen. Er erzählte es mir, und ich fürchte, er war unverschämt. Aber ich nehme ganz aufrichtig ein großes, ein sehr großes Interesse an dem jungen Menschen, und wenn ich einmal dahingegangen bin, Utterson, wünschte ich, daß du mir versprächest, dich seiner anzunehmen und seine Rechte zu wahren. Wenn du alles wüßtest, würdest du es tun, und es würde mein Herz sehr
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